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Die Asche der Erde

Die Asche der Erde

Titel: Die Asche der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Geistes.
     
    Letzte Woche haben wir zehntausend Gänse gezählt, ein mehr als doppelt so großer Vogelzug wie noch vor fünf Jahren. Die Natur ist mit ihrem blank gefegten Planeten ganz zufrieden. Früher habe ich davon geträumt, eine Kamera am Bein eines dieser gefiederten Vagabunden zu befestigen. Heute wäre ich gern selbst einer von ihnen.
     
    Die ersten der Seiten lasen sich wie ein Almanach und fassten das Leben in der Kolonie aus der Sicht eines Statistikers zusammen: die Zahl der Einwohner, der letztjährigen Geburten und der Kühe, Pferde und Schweine auf den Farmen; der Umfang des Ernteertrages und der Milchproduktion; die Tonnen von gemahlenem Mehl und sogar die Literzahl des gewonnenen Sirups aus den Ahorngehölzen. Jede Seite hatte das gleiche Format: eleganter Text in einem Kasten, die Ränder mit Illustrationen und vereinzelt auch mit kurzen Aphorismen oder Zitaten versehen, manche davon auf Latein.
    Hadrian fühlte sich unerwartet zufrieden, denn sein alter Freund lebte auf diesen Seiten weiter. Jonahs Präsenz war dermaßen greifbar, dass Hadrian sogar einen der Sassafraszweigezu riechen glaubte, auf denen Jonah oftmals herumkaute, wenn er aus dem Wald zurückkehrte. Die Schilderungen der kleinen Ereignisse, aus denen das Leben in Carthage bestand, bereiteten ihm regelrecht Vergnügen.
    Eine zahme Ziege folgte einem Mädchen ins Schulgebäude. Am letzten Abend des Sommerfestes wurden zweihundert Kuchen verspeist. Ein neuer Schoner lief vom Stapel, um die Küste hinaufzufahren und Bauholz und Salz zu holen. Dies alles musste Jonahs ursprüngliche Absicht gewesen sein: einfach die Normalität zu dokumentieren, die Kolonie als einen lebenden Organismus zu zeigen und zu demonstrieren, wie die Menschen trotz all ihrer Heimsuchungen und der Selbstzerstörung der modernen Gesellschaften einen Weg fanden, das Leben nicht nur fortzuführen, sondern auch zu genießen.
    Alle paar Wochen tauchte eine andere Art von Seite auf, eine mit Zeichnungen und Instruktionen, wie kleine Leitfäden der Zivilisation. Auf ihnen waren die Entwürfe von Gerätschaften und Gebäuden festgehalten, die die Kolonie vorangebracht hatten. Die Pfahlramme, mit der sie die Hafenanlagen gebaut hatten, das wasserbetriebene Sägewerk, der erste Dampfkessel.
    Er ertappte sich dabei, dass er in die dunkelste Ecke der Höhle starrte, wo Jonah breite Bretter angelehnt hatte, an denen die detaillierten Zeichnungen seiner zukünftigen Projekte hingen. Hadrian räumte die Bretter beiseite und stellte sie vor die Bücherregale. An der Wand wurde eine alte Straßenkarte sichtbar. Er hob sie an und wischte den Staub der Jahrzehnte weg. Die Gefühle schnürten ihm die Kehle zu. In Hüfthöhe waren sechs Reihen identischer Markierungen in das Holz geritzt. Hadrian brauchte sie nicht zu zählen. Er selbst hatte vor fünfundzwanzig Jahren jeweils zehn pro Reihe hier eingekerbt.
    Dies war der Ort des Ursprungs.
     
    Ein Sturm, dachte Hadrian beim Anblick der ersten Blitze am Horizont. Er war zu Fuß in der Nähe des Sees unterwegs und befand sich gerade in einem Hohlweg, als sich plötzlich grelle Lichtblitze in der Wolkendecke spiegelten und starker Wind aufkam. Er war zwei Tage vor dem Rest der Familie hergekommen, um an ihrer kleinen Berghütte einige Reparaturen durchzuführen. Nun wollte er ein Stück tiefer hinabsteigen, damit sein Telefon ein Netz fand, und dann seine Frau bitten, mit den Kindern zu Hause abzuwarten, bis das Wetter sich besserte.
    Einen solchen Sturm hatte er noch nie erlebt. Die Blitze am Horizont waren unglaublich stark, aber es regnete nicht. Es zuckten nur lange heftige Lichtbahnen über den Himmel, gefolgt von so gewaltigen Windböen, dass auf den Hügelkämmen die ersten Bäume umknickten. Hadrian war nicht überrascht, dass er auch unten am Wasser keinen Mobilfunkempfang hatte. Er wollte sich schon auf den Rückweg zur Hütte machen, als er eine hektisch läutende Glocke hörte. Er lief den Uferpfad auf das Geräusch zu. Dabei schaute er immer wieder hinaus auf das seltsam aufgewühlte Wasser und stieß beinahe mit dem bärtigen Mann zusammen, der mit einem Hammer auf die alte Glocke einhieb. Sie war am Rand einer hohen Klippe aufgestellt und gehörte zu einem einstigen Nebelwarnsystem. Die Männer sprachen zunächst kein Wort, denn sie hatten beide eine große Jacht erblickt, die mit gebrochenem Mast und zerfetztem provisorischen Segel verzweifelt versuchte, das Ufer zu erreichen. Dann rollte jählings eine riesige Woge

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