Die Asche der Erde
hatte den Tod nicht nur deswegen hingenommen, weil er glaubte, die Ausgestoßenen gerettet zu haben, sondern weil es genau diesen Plan gefährdet hätte, wäre er den Forderungen der Täter nachgekommen.
Hadrian blätterte ein weiteres Mal das Tagebuch durch und stieß auf einen achtzehn Monate alten Eintrag, in dem der Untergang der
Anna
beklagt wurde, des ersten Fischdampfers der Kolonie, benannt nach Jonahs vor Jahren gestorbener Tochter. Ebenfalls verzeichnet waren die Namen der beiden Besatzungsmitglieder, die während des Sturms ertrunken waren.
Dann legte Hadrian die Fetzen von Jonahs letzter verzierter Seite vor sich auf den Tisch. Es frustrierte ihn mehr denn je, dass er einfach nicht begriff, wieso Jonah versucht hatte, den Text zu vernichten.
Er nahm das Vergrößerungsglas und prüfte damit ein Stück des illustrierten Randes nach dem anderen, betrachtete die Ranken, suchte nach einem Muster. Auf einmal kamen ihm die Schlingen und Windungen gar nicht mehr so zufällig vor. Über einem der Kürbisse bildete eine Ranke die Ziffer Zwei, und daneben schien eine Drei zu stehen. Er fand noch eine Ziffer, dann einen Buchstaben. Nachdem er kurz innegehalten hatte, um sich noch einmal das Bild als Ganzes zu vergegenwärtigen, nahm er die Suche systematischer in Angriff, beginnend am unteren Rand der Seite.
Sobald seine Augen sich an das Puzzle gewöhnt hatten, sprangen die Worte ihm förmlich ins Gesicht.
Teneo lupum auribus
. Ich halte einen Wolf bei den Ohren. Er las den Satz unschlüssig ein zweites Mal und arbeitete sich dann die vollständige linke Seite sowie den oberen Rand entlang. Doch es folgten keine Worte mehr, sondern nur noch Buchstaben und Zahlen, angefangen mit N 2 GALR 4 MGSS3GTS 2 CCM. Der Rest hatte auf den Stücken gestanden, die sein Freund herausgebissen hatte.
»Jonah!«, rief er verärgert und hieb mit der Faust auf den Tisch. Warum war es notwendig gewesen, die Worte und Buchstaben zu verstecken? Und vor wem? Sein Freund war doch gewiss nicht wegen einer wirren Folge von Schriftzeichen gestorben. Hadrian wusste nicht, wie lange er die Papierfetzen anstarrte, aber schließlich stellte er das Tagebuch zurück auf den Ständer, blies die Kerzen aus und ging.
In der Hütte versteckte er den Schlüssel wieder hinter dem Stein und bereitete sich in dem Kessel, der über der Feuerstelle hing, einen Tee zu. Es war zwei Stunden vor Tagesanbruch, aber er konnte nicht schlafen. Er trug einen Schaukelstuhl hinaus auf die Veranda, auf der er und Jonah so viele Abende verbracht hatten. Sein Blick wanderte hinauf zu der mondbeschienenen Lichtung auf der Klippe, wo die alte Glocke gestanden hatte. Es war eine schmerzliche Erfahrung gewesen, die Geheimnisse in der verborgenen Kammer zu ergründen, doch allmählich wurde ihm klar, dass Jonah ihn aus einem bestimmten Grund nicht eingeweiht hatte: um ihn zu schützen. Hadrian war sich sicher, dass irgendetwas in dem Gewölbe der Grund dafür war, dass man Jonah ermordet hatte. Er hatte den Wolf bei den Ohren gepackt, aber der Wolf war ihm an die Kehle gegangen.
Während Hadrian die Sterne beobachtete, fühlte er sich so einsam wie noch nie zuvor in seinem Leben. Seine Entdeckungenhatten einen Kummer in ihm wachgerufen, den er eigentlich seit Jahren überwunden geglaubt hatte. Ferne Erinnerungen blitzten in seinem Gedächtnis auf, und plötzlich roch er Lakritze und war wieder bei seinem toten Sohn, erklärte ihm die Sternbilder, hörte die geflüsterten Fragen, als fürchte der Junge, eine laute Stimme könne die Schönheit des Nachthimmels stören. Eine Sternschnuppe verglühte über ihren Köpfen, und sein Sohn nahm Hadrians Hand. Er konnte die Berührung fühlen, sie war so real wie der Stich einer Klinge. Tränen stiegen ihm in die Augen. In den ersten Jahren hatte Jonah ihm oft versichert, mit der Zeit würden alle Wunden heilen, doch es war nie so gekommen. Hadrians Seele war vor fünfundzwanzig Jahren abgetötet worden, aber die Narbe riss immerzu auf, ließ wieder und wieder den Schmerz durchsickern und machte Boone empfindungslos für das Leben um ihn herum. Das war der Grund für seine selbstzerstörerische Sorglosigkeit gewesen, die ihn alles in der Kolonie gekostet hatte.
Er blinzelte die Tränen weg, bemühte sich verzweifelt, seinen Sohn bei sich zu behalten, flüsterte ihm die Namen weiterer Sternbilder und Planeten zu und hielt nun inne, weil ein neuer, hellerer Stern am Horizont erschien. Er erstarrte und rieb sich die Augen.
Das war
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