Die Asklepios Papiere (German Edition)
aufmerksam, dass der gesamte Bereich Videoüberwacht wurde und die Stationen nachts verschlossen wurden. „Die Franzosen gehen aber auf Nummer sicher“, dachte Hannah und ihr kam in den Sinn, wie unschön dagegen die Zustände auf den meisten deutschen Bahnhöfen waren.
Der Weg bis zum Abfahrtsgleis war nicht lang. Einige Biegungen und eine Treppe, dann war sie auch schon da. Sie sah einen freien Platz auf einer Bank und setzte sich neben einen älteren Herrn im Anzug. Hannah konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Er hielt mit beiden Händen eine Zeitung, während unter dem linken Arm wie selbstverständlich ein Baguette klemmte.
„Fehlt nur noch die Baskenmütze und eine Flasche Rotwein“, dachte sie und musste selbst über ihr Vorurteil lachen. Der Mann schien ihr Lächeln zu bemerken und erwiderte es freundlich, ohne den wahren Grund zu kennen.
Nach wenigen Minuten kündete aufkommender Lärm und ein starker Luftzug von der herannahenden Bahn.
Die Linie 4 wurde um diese Zeit nicht stark frequentiert, so dass Hannah einen ganzen Doppelsitz für sich und ihr Gepäck in Anspruch nehmen konnte. Nachdem die Metro sich in Bewegung gesetzt hatte, zückte sie ihr Handy, in der Hoffnung, Peter doch noch zu erreichen. Wie nicht anders zu erwarten, erwies sich das jedoch abermals als erfolgloses Unterfangen.
Die Fahrt dauerte nicht lange. Nach weniger als zwanzig Minuten kam Hannahs Haltepunkt in Sicht. Sie packte schnell ihre Habseligkeiten zusammen und eilte zur Tür.
Nach dem Aussteigen galt es, sich zu orientieren. Da sie sich aber ohnehin nicht auskannte, nahm sie einfach den erstbesten Ausgang und fuhr mit einer Rolltreppe nach oben. Ihr fiel auf, dass sich die Einheimischen alle rechts hielten, damit links besonders Eilige vorbeigehen konnten. Mit ihrem Gepäck versperrte Hannah jedoch diese Überholspur, sodass sie trotz vieler mahnender excuses nur schuldbewusst mit den Schultern zucken konnte.
Etliche Minuten und wüste Beschimpfungen später erreichte Hannah endlich den Ausgang und trat ins gleißende Sonnenlicht. Beinahe hätte sie vergessen, wie brütend heiß es draußen war. Die Hitze flirrte auf dem Asphalt und ließ alles um sie herum verschwimmen. Sie stellte ihr Gepäck einen Augenblick ab, schirmte ihre Augen mit den Händen ab und blickte sich um. Sie stand direkt an einer kleinen verträumten Straße mitten im Studentenviertel von Paris, das von den Einheimischen als Quartier Latin bezeichnet wurde. Wieso Peter ausgerechnet hier eine Bleibe gefunden hatte, war ihr schleierhaft.
Aus dem Reiseführer erfuhr sie, dass sich der Name daraus ableitete, dass an der nahegelegenen Sorbonne über viele Jahrhunderte hinweg Latein als die Sprache der Wissenschaft und der Gelehrten galt und die einzige Kommunikationsform der Studenten und Professoren bildete. Das Quartier Latin schien dabei jedoch eher eine allgemeine Bezeichnung für den Umkreis der Universität, denn eine genaue geografische Abgrenzung zu sein. Seit je her bildete das Quartier Latin darüber hinaus auch ein Zentrum der intellektuellen und akademischen Szene von Paris. Selbst deutsche Schriftsteller wie Klaus Mann erlagen in der Mitte der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts dem liberalen und beflügelnden Charme dieses geistigen Schmelztiegels.
Direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite fiel Hannahs Blick auf eine Brasserie, wie man sie sich idealtypisch vorstellte. Ein kleines romantisches Ladenlokal, einige Bistrotische auf dem Bürgersteig davor und ein roter Baldachin. Ein garcon lief umher und servierte Kaffee. An den Tischen saßen etliche junge Leute, die sich angeregt unterhielten oder beim Kaffeetrinken in Büchern schmökerten. „Student müsste man nochmal sein“, sinnierte Hannah neidisch. Sie blickte sich um und erspähte am hinteren Ende der Straße ein Schild: Le Saint Jacques .
„ So weit, so gut“, spornte sie sich selbst an und machte sich auf den Weg.
Le Saint Jacques war eine verträumte kleine Allee mit hohen dicht gewachsenen schattenspendenden Platanen. Hübsche alte Häuser, die ihrem Aussehen nach zu urteilen allerdings schon wesentlich bessere Zeiten erlebt hatten, säumten beide Straßenseiten. Nach einem kurzen Fußmarsch erreichte sie ihr Ziel. Die Hausnummer 12b lag auf der gegenüberliegenden Seite. Ein unauffälliger mehrgeschossiger Bau, von der Art, wie Peter sie in Köln stets verspottet hatte. Sie überquerte die kaum befahrene Straße und fand auf dem Klingelschild schnell
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