Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition)
Haushaltsnettoeinkommen reduziert. Doch die Lebenssituation von Familie Thiel und ihren Nachbarn, von Menschen am Rande der Gesellschaft wird dadurch nicht realistisch beschrieben. Die Probleme der Benachteiligten sind viel weitgehender, grundsätzlicher und gemeiner, als es ein paar fehlende Euros ausdrücken können.
In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich in Deutschland eine neue Unterschicht gebildet. Sie ist gekennzeichnet durch eigene Lebensformen, eine eigene Ästhetik, eigene Medien, eigene Werte und Vorbilder. Es ist wie ein anderes Land, mitten in Deutschland. Der Abstand dieser Parallelgesellschaft zur Mitte vergrößert sich. Doch der Graben verläuft nicht entlang der ökonomischen Grenzen, sondern der kulturellen. Die Spaltung am unteren Rand der Gesellschaft ist eine kulturelle Spaltung.
Diese Erkenntnis ist unangenehm. Sie schmerzt. Und sie widerspricht der Ideologie vieler sozial engagierter Menschen. Die geben ihre langjährige Überzeugung nicht widerstandslos auf, nicht ohne Kampf. Das sollte auch ich erfahren.
2004 schrieb ich meine erste Reportage aus der fremden Welt in unserer Nachbarschaft. Sie führte mich nach Essen-Katernberg. Ich traf die zweieinhalbjährige Sydney, die den ganzen Tag im Kinderzimmer mit japanischen Zeichentrickfilmen und Duplos ruhig gestellt wurde. Sydneys Mutter Doris Bauer 2 und deren schwangere Freundin Gabi Wert 3 schauten im Wohnzimmer fern und rauchten. Hin und wieder stand Mutter Bauer auf, um gegen eine Zimmertür zu hämmern. »I s ’ schon nach Mittag«, brüllte sie. Hinter der Tür schlief ihr 20-jähriger Sohn aus einer anderen Beziehung. »Ich hab es ihm schon mehrmals gesagt: Such dir Arbeit! Mehrmals. Aber …« Resigniert schaute sie die geschlossene Tür an.
Die beiden Frauen fanden es absolut normal, dass sie ihre Kinder alleine aufziehen mussten. Ihre Lover blieben nie lange. Wenn ein Schwangerschaftstest positiv ausfiel, packten die Männer am nächsten Morgen ihre Sachen. »Die Kerle wissen ja, dass Vater Staat für uns sorgt«, sagte Gabi Wert. »Naja, so toll nun auch wieder nicht«, widersprach Frau Bauer. »Sich mal was gönnen, zu McDonalds oder so, also so oft ist das nicht drin.«
Im Zuge der Recherche sprach ich mit vielen Sozialwissenschaftlern an deutschen Universitäten über meine Erfahrungen. Ich wollte wissen, welche Erkenntnisse sie über die Lebensform der Unterschicht hatten, jenseits der rein ökonomischen Fragen. 4 Selten ist mir bei Recherchen mit so offener Aggression begegnet worden.
Sozialwissenschaftler, die den unteren Rand der Gesellschaft erforschen, nennen sich in Deutschland meist »Armutsforscher«. Die Festlegung auf nur eine Erklärung von gesellschaftlicher Benachteiligung, nämlich die ökonomische, ist damit nicht das Ergebnis ihrer Forschung, sondern der Grund ihrer Berufung. Ergebnisoffene Forschung ist also gar nicht vorgesehen.
Entsprechend war die Reaktion auf meine Fragen: »Mit jemandem, der nach Gründen für die skandalösen Lebensverhältnisse der Armen abseits der ökonomischen Gegebenheiten sucht, will ich gar nicht reden«, sagte ein Professor aus Ostdeutschland und legte sogleich auf. Ein norddeutscher Kollege von ihm drohte gar: »Die Armen sind auch nicht anders als der Rest der Gesellschaft. Sie haben nur weniger Geld. Wenn Sie diese Tatsache leugnen, machen wir Sie fertig, das schwöre ich Ihnen.«
Der Streit um Worte
Meine Reportage wurde schließlich mit dem deutschen Sozialpreis 2005 ausgezeichnet. 5 Er wird von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege ( BAGFW ) vergeben. Präsidentin war Barbara Stolterfoht, ehemalige Sozialministerin in Hessen. Wenige Tage vor der feierlichen Preisverleihung in der Dependance der Dresdner Bank am Pariser Platz in Berlin musste ich wegen der Recherche für ein anderes Thema mit Frau Stolterfoht telefonieren. 6 Sofort begann sie, mich wegen meines »ungeheuerlichen« Artikels zu beschimpfen. Meinen Versuch, sie zu besänftigen, konterte sie : »Ja, ja, ich weiß: Arbeit macht frei.«
Knapp eine Woche später musste ausgerechnet Frau Stolterfoht bei der Preisverleihung vor der versammelten sozialpolitischen Prominenz Deutschlands die Laudatio auf mich und meine Reportage halten. »Ich achte die Unabhängigkeit der Jury, doch ich bin anderer Meinung«, begann sie ihre Anti-Laudatio, die eine Fundamentalkritik an meiner Arbeit darstellte. Am Tag darauf war mein Artikel Gegenstand einer Debatte im deutschen Bundestag. 7
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