Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition)
wirtschaftlicher Vernunft.
Der Turbohandel ist kein Randphänomen an den Börsen. » HFT hat mittlerweile eine dominante Stellung an den wichtigsten Börsen inne«, schreibt die Bundesbank. Aktuellen Schätzungen zufolge hat der Blitzhandel an der Frankfurter Börse bereits die Hälfte des gesamten Handelsvolumens erobert. 4 An der Wall Street waren es 2009 sogar schon 70 Prozent. 5 Beim Geschäft an den Börsen handelt es sich inzwischen mehrheitlich um Hochfrequenzhandel. Das Herz des Kapitalismus ist digital, aber nicht rational.
Am 6. Mai 2010 war es dann so weit: Für eine Viertelstunde hatten die Rechner die Macht vollständig übernommen. Wie auf ein geheimes Kommando hin verkauften die HFT -Computer an der Wall Street plötzlich große Mengen an Wertpapieren. Das löste weitere automatische Verkäufe aus, was wiederum weitere Verkäufe zur Folge hatte. Die Algorithmen glühten. Die Wall Street erlebte ihren ersten »Flash Crash«.
Dick Grasso ist ein Veteran der Wall Street. Von 1995 bis 2003 hat er der New York Stock Exchange sogar vorgestanden. Doch etwas Vergleichbares hatte auch er noch nie durchlitten: »Der Markt fiel um 600 Punkte, stieg dann um 600 Punkte, bevor irgendwer seine Tasse Kaffee austrinken konnte«, sagte Grasso in einem Interview mit Bloomberg Radio. 6 Zahlreiche Aktien verloren innerhalb von Minuten 99 Prozent ihres Wertes. Der Dow Jones Industrial Average Index fiel in sechs Minuten um mehr als neun Prozent.
Nach einer Viertelstunde war der Spuk plötzlich vorbei. Die Computer beruhigten sich. Die Kurse stiegen wieder. Bis heute kennt niemand die Ursache für den Flash Crash. Ein Tippfehler in einem Algorithmus? Zwei Algorithmen, die sich gegenseitig hochschaukelten? Zickenkrieg der Rechner? Zufall? Hacker? Die Chinesen?
Die Bundesbank ist besorgt. In ihrem Finanzbericht widmet sie dem Blitzhandel einen eigenen Kasten mit der Überschrift: »Hochfrequenzhandel braucht Regeln.« 7
»Dieser kurzfristige und kurzsichtige Handel, das ist eines der Hauptprobleme«, sagt auch der pensionierte Hamburger Chef der Deutschen Bank, der Oberbankbeamte Rolf Hunk. Er musste noch für jede einzelne Transaktion an der Börse ein Formular mit der Schreibmaschine ausfüllen, »mit drei Durchschlägen«.
Als die Banken noch Diener waren und keine Herren, war ihr Ruf unantastbar. Ihr tadelloses Image hat sogar Spuren in unserer Sprache hinterlassen. Bis heute ist ein verlässlicher Torhüter »eine Bank«. Wenn man sich um etwas Wertvolles keine Sorgen machen muss, dann ist es »sicher wie die Bank von England«. Dieses Ansehen erwarben die Geldhäuser sich zu Recht. Sie erfüllten eine wichtige Aufgabe. Ohne die Leistungen der Finanzwirtschaft wäre der heutige Wohlstand undenkbar.
Als die Banken noch »eine Bank« waren, konnte jeder ihr Geschäftsmodell verstehen: Anleger oder Sparer geben der Bank Geld und bekommen dafür Zinsen. Die Bank verleiht das Geld weiter und verlangt dafür etwas höhere Zinsen. Von der Differenz lebt das Geldhaus. Der Kredit ist der Motor der gesamten Wirtschaft. Die meisten Investitionen werden erst durch einen Kredit ermöglicht. Ohne Kredit kann nur seine Ideen und Erfindungen in die Tat umsetzen, wer schon von Haus aus Geld hat. Ohne die Finanzierung einer Bank, können nur Reiche ein Unternehmen gründen.
Auch andere Branchen haben sich dramatisch verändert, aber keine hat sich innerhalb nur einer Generation so vollkommen in ihr Gegenteil verkehrt: Aus langsam wurde turboschnell. Aus sicher wurde brandgefährlich. Der langweiligste Arbeitsplatz wurde so aufregend wie das Cockpit eines Düsenjets. Aus einfach wurde undurchsichtig. Aus der Stütze der Volkswirtschaft wurde ein Parasit. Aus nützlich wurde schädlich. Aus dienen wurde verdienen. Aus dem angesehenen Bankbeamten, dem Symbol der Zuverlässigkeit, wurde ein Buhmann. Nicht nur in Deutschland. Der Banker ist der Weltfeind Nummer eins.
Nun wird der ganzen Gesellschaft klar, dass sie die entscheidenden Veränderungen in der Finanzwirtschaft gut zwei Jahrzehnte zu spät bemerkt und verstanden hat. Sie vertraute noch darauf, dass in der Branche nach dem Grundsatz der Korrektheit gearbeitet werde, als davon allenfalls noch der tadellose Anzug übrig war. Die Kunden sahen in ihrem Bankberater auf der anderen Seite des Schreibtisches den unabhängigen Bankbeamten ohne eigene Interessen. Dabei saß längst ein auf Provisionsbasis bezahlter Verkäufer vor ihnen, der vorwiegend auf eigene Rechnung arbeitet. Erst
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