Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition)
findet man in jeder normalen Familie Probleme, die einen Anspruch auf Hilfe rechtfertigen«, sagt Wolfgang Hinte. Jeder ist ein potenzieller Kunde der Hilfsindustrie.
Das Sozialgesetzbuch ist der Katalog der Hilfstatbestände. Er wird dicker von Jahr zu Jahr. Dafür sorgen die Funktionäre der Hilfsindustrie in der Hauptstadt. »Das ist nun mal unsere originäre Aufgabe, im Verteilungskampf für die Interessen unserer Kunden zu kämpfen«, sagt Oswald Menninger, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Berlin. »Ich nenne das Verantwortungslobbyismus.«
Von der Lobby direkt ins Parlament
Menninger wird im Berliner Regierungsviertel von vielen Kollegen unterstützt. Zum Beispiel von Sonja Meier. 44 Sie leitet das Referat Jugendpolitik beim Christlichen Verband Junger Menschen ( CVJM ). »Klar bin ich eine Lobbyistin«, sagt Frau Meier. Kürzlich hatte sie Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble zu Gast. Bald kommt Familienministerin Kristina Schröder. Ihren Job beschreibt Meier so: »Abgeordnete treffen, Überzeugungsarbeit – wie andere Lobbyisten auch. Und man ist ja nicht alleine. Es gibt viele, die so unterwegs sind wie ich.«
Meier gilt in der Branche als Geheimwaffe. Wenn in der Politik über Veränderungen im Sozialgesetzbuch nachgedacht wird, die sich nicht ausschließlich positiv für die Sozialunternehmen auswirken könnten, wird Sigrid Meier zum Nahkampf in die Abgeordnetenbüros geschickt. 45 Niederlagen der Lobbyistin sind nicht überliefert.
Auch die Bundestagsabgeordnete Miriam Gruß von der FDP hatte schon Besuch von Meier. Die Wohlfahrtslobbyisten machen selbst vor den Liberalen nicht Halt. Gruß ist familienpolitische Sprecherin ihrer Fraktion und sitzt in den Ausschüssen, die für die Sozialbranche besonders wichtig sind. »Die Wohlfahrtsverbände bearbeiten uns Abgeordnete mit ihren Lobbyisten wie kaum eine andere Branche«, beschwert sich Frau Gruß.
Die Agenten des Guten sind nicht nur im Nahkampf ausgebildet, sie werden auch undercover eingesetzt. Von der Finanzindustrie ist bekannt, dass sie ihre Mitarbeiter großzügig an die Ministerien ausleiht. Kostenlos natürlich. Dort unterstützen die Banker die Ministerialbürokratie dann beim Formulieren der Gesetze. Genauer: Sie schreiben sich ihre Gesetze gleich selbst. Genau das macht die Hilfsindustrie längst auch: Experten, die bei Sozialverbänden beschäftigt sind, arbeiten im Sozialministerium neue Gesetze aus. Mit eigenem Schreibtisch und Durchwahlnummer. 46
Die Mächtigen der Finanz-, Energie- oder Pharmaindustrie wollen die Gesetze dieses Staates mitbestimmen. Damit geben sich die Unternehmen der Sozialwirtschaft nicht zufrieden. Sie erheben für sich den Anspruch, im Wohlfahrtsgeschäft gleich alle hoheitlichen Aufgaben auf einmal zu übernehmen: Über ihre massive Lobbyarbeit definieren sie, welche Lebenssituation überhaupt als hilfsbedürftig eingestuft wird. In der Umsetzung vor Ort entscheiden sie: Wer bekommt welche Hilfe. Wer leistet die Hilfe. Welche Methode wird angewendet, wie lange, wie oft, zu welchem Preis. Die Helfer sind die allmächtigen Herrscher des Wohlfahrtsmarktes.
Warum lässt sich die Politik das gefallen? Warum versuchen die Politiker nicht wenigstens, die Kontrolle über die Hilfesysteme zurückzuerobern? Um das zu erklären, muss man Namen nennen. Eine kleine, bescheidene Auswahl:
Rudolf Seiters: Als der ehemalige Bundesinnenminister zurücktreten musste, fand die Partei ein warmes Plätzchen für ihn. Seit 2003 ist er Präsident des Deutschen Roten Kreuzes.
Wilhelm Schmidt: Der SPD -Politiker und ehemalige parlamentarische Geschäftsführer der SPD -Bundestagsfraktion ist heute Präsidiumschef des Bundesverbandes der Arbeiterwohlfahrt.
Helga Kühn-Mengel: Die Politikerin saß 13 Jahre für die SPD im Bundestag. In der vergangenen Legislaturperiode war sie sogar Patientenbeauftragte der Bundesregierung. Doch bei der Bundestagswahl 2009 entschieden die Wähler sich gegen die Genossin. So sitzt sie heute an der Seite von Wilhelm Schmidt im AWO -Präsidium.
Kerstin Griese: Die SPD -Politikerin war in der vergangenen Legislaturperiode Vorsitzende des Familienausschusses im Bundestag. Als die Wähler sie nicht mehr ins Parlament wählten, bekam sie einen Job beim Diakonischen Werk. Im Bundesvorstand war sie zuständig für die Sozialpolitik. Doch sie musste nur kurz parken. Nach dem Ausscheiden einer SPD -Abgeordneten durfte sie schon 2010 in den Bundestag nachrücken.
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