Die Aspern-Schriften (German Edition)
Sonette Shakespeares sind) davon aus, dass Juliana nicht immer dem steilen Pfad der Enthaltsamkeit gefolgt war. Ihren Namen umwehte ein Hauch von reueloser Leidenschaft, da gab es Andeutungen, dass sie sich nicht immer so verhalten habe, wie es sich für eine ehrbare junge Dame im Allgemeinen gehörte. War dies ein Zeichen dafür, dass ihr Dichter sie betrogen hatte, ihr, wie wir heute sagen, den Laufpass gegeben hatt e ? Sicherlich wäre es schwierig gewesen, den Finger auf die Stelle zu legen, an der ihr guter Ruf Schaden erlitten hatte. War nicht im Grunde jeder Ruf gut genug, um ein Überdauern verdient zu haben, zumal wenn er mit Werken verbunden war, die durch ihre Schönheit unsterblich ware n ? Zu meiner Vorstellung gehörte auch, dass die junge Dame vor ihrer Begegnung mit Jeffrey Aspern einen ausländischen Geliebten gehabt hatte, mit dem es wohl zu einem höchst unerfreulichen Bruch gekommen war. Sie hatte mit ihrem Vater und ihrer Schwester in einer kuriosen, altmodischen Künstlerbohème aus Exilanten gelebt, die noch in jener Zeit verhaftet war, als nur das Akademische als das ästhetisch Vollkommene galt und die Maler, die die geeignetsten Modelle für contadina und pifferaio kannten, spitze Hüte und lange Haare trugen. Es war eine Gesellschaft, die, anders als die heutigen Zirkel, kaum etwas von den wunderbaren Gelegenheiten, von den glücklichen Momenten der Frühaufsteher, die all ihre Wege bevölkerten, wusste und daher ihre Aufmerksamkeit weniger auf Fetzen alter Stoffe und Scherben alter Töpfereien richtete; insofern scheint Miss Bordereau nicht viele Gegenstände von Bedeutung zusammengetragen oder geerbt zu haben. In dem Zimmer, in dem meine Begegnung mit ihr stattgefunden hatte, stand kein beneidenswerter Nippes herum, dem eine aufregende Geschichte anhing, wie billig er erworben worden war. Ein solcher Mangel ließ auf Kargheit schließen, ließ sich aber aufs Glücklichste mit dem nostalgischen Interesse vereinbaren, das ich schon immer für jene frühe Bewegung bekundet hatte, die meine Landsleute als Besucher nach Europa gebracht hatte. Wenn Amerikaner um 1820 nach Übersee reisten, hatte das etwas Romantisches, geradezu Heroisches, verglichen mit dem ständigen Hin und Her der Passagierdampfer unserer Zeit, einer Epoche, in der die Fotografie und andere Annehmlichkeiten jede Art von Überraschung ausgelöscht haben. Miss Bordereau war in den Tagen langwieriger Reisen und harter Kontraste mit ihrer Familie auf einer schaukelnden Brigg gesegelt; sie hatte sich ihren schwankenden Empfindungen auf dem Sitz von gelben Postkutschen hingegeben, die Nächte in Gasthäusern verbracht, wo sie von Erzählungen anderer Reisender träumte, und war zutiefst überwältigt gewesen, als sie die Ewige Stadt mit ihrer Eleganz aus römischen Perlen, Seidentüchern und glitzernden Broschen zum ersten Mal betrat. Zunächst lag in all dem etwas Anrührendes, und häufig ging ich in meiner Fantasie in jene Zeit zurück. Wenn es schon Miss Bordereau gelang, mich so weit fortzutragen, hatte Jeffrey Aspern dies zu anderen Zeiten noch mit wesentlich stärkerer Wirkung getan. Bei ihm war es von weitaus größerer Bedeutung, wenn man sein Genie zu ergründen versuchte, dass er noch zu Zeiten gelebt hatte, bevor die allgemeine Vermischung der Kulturen begann. Manchmal empfand ich es sogar als bedauerlich, dass er Europa überhaupt kennengelernt hatte; ich hätte gern gewusst, was er wohl geschrieben hätte, wenn er diese Erfahrung, die ihn unbestreitbar bereichert hatte, nicht gemacht hätte. Da aber sein Schicksal anders verlaufen war, folgte ich seinen Wegen und versuchte zu beurteilen, wie die alte Ordnung der Welt ihn wohl beeindruckt haben mochte. Doch nicht nur in dieser Hinsicht beobachtete ich ihn. Die Beziehungen, die er zu seiner neuen Welt unterhielt, interessierten mich sogar noch lebhafter. Schließlich hatte er den größten Teil seines Lebens in seinem Heimatland verbracht, und seine Muse, wie man damals sagte, war in ihrem Wesen amerikanisch. Das war es ursprünglich gewesen, wofür ich ihn so hoch geschätzt hatte: dass er zu einer Zeit, als unser Herkunftsland nackt, roh und provinziell war, als keiner die berühmte »Atmosphäre«, die ihm angeblich fehlen sollte, nur im entferntesten vermisste, als die Literatur dort auf verlorenem Posten stand und Kunst und Gestaltung fast unmöglich waren, Mittel und Wege gefunden hatte, zu leben und zu schreiben wie einer der Ersten; frei und großzügig und
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