Die Aspern-Schriften (German Edition)
sie nach einem Grund dafür, doch wollte ihr keiner einfallen. Stattdessen fragte sie abrupt: »Warum in aller Welt wollen Sie uns unbedingt kennenlerne n ?«
»Im Grunde sollte ich eben doch einen Unterschied machen«, erwiderte ich. »Diese Frage stellt Ihre Tante, nicht Sie. Sie würden so etwas nicht fragen, wenn man es Ihnen nicht in den Mund gelegt hätte.«
»Sie hat mir nicht aufgetragen, Sie zu fragen«, antwortete Miss Tina ohne ein Zeichen der Irritation. Sie war wirklich die seltsamste Mischung aus Schüchternheit und Aufrichtigkeit.
»Nun gut, aber sie hat sich diese Frage häufig selbst gestellt und ihre Verwunderung Ihnen gegenüber zum Ausdruck gebracht. Sie hat darauf beharrt, und dadurch hat sie Ihnen die Idee in den Kopf gesetzt, dass ich unerträglich aufdringlich sei. Aber ich versichere Ihnen, dass ich nach meinem Dafürhalten äußerst taktvoll war. Doch Ihre Tante muss jede Gewöhnung an Geselligkeit vollständig eingebüßt haben, wenn sie die Vorstellung als völlig undenkbar ansieht, dass ehrbare, intelligente Leute, die unter demselben Dach zusammenleben, nicht gelegentlich ein Wort miteinander wechseln sollte n ! Gibt es etwas Natürlichere s ? Wir stammen aus demselben Land und haben zumindest einige Vorlieben gemeinsam, denn genau wie Sie bin ich sehr angetan von Venedig.«
Meine Gesprächspartnerin schien unfähig, in einer Aussage mehr als einen Satz zu erfassen, und sie sprach nun schnell, überstürzt, als müsste sie meine ganze Rede in einem Zug beantworten: »Ich bin nicht im Geringsten angetan von Venedig. Am liebsten würde ich weit fortgehe n !«
»Hat sie Sie immer schon von allem abgehalte n ?« fuhr ich fort, um ihr zu zeigen, dass ich genauso sprunghaft sein konnte wie sie.
»Sie hat mich gedrängt, ich solle heute Abend nach draußen gehen; sie hat mir das schon oft aufgetragen«, sagte Miss Tina. »Ich selbst habe es nicht gewollt. Ich mag sie nicht gern allein lassen.«
»Ist sie zu schwach, ist sie wirklich so hinfälli g ?« fragte ich mit mehr Anteilnahme, wie mir scheint, als ich eigentlich zu erkennen geben wollte. Ich ermaß dies an der Art, wie ihre Augen in der Dunkelheit auf mir ruhten. Es erzeugte mir ein wenig Unbehagen, und um von der Sache abzulenken, fuhr ich in freundlichem Ton fort: »Kommen Sie, wir setzen uns gemeinsam irgendwo bequem nieder, und Sie erzählen mir alles über sie.«
Miss Tina bekundete keinen Widerstand. Wir fanden eine Bank, die weniger abgeschirmt, weniger intim war als die in der Laube; und wir saßen noch immer dort, als ich es Mitternacht schlagen hörte; es waren diese helltönenden Glocken Venedigs, die mit einer ganz eigenen Feierlichkeit über die Lagune hallen und deren Ton so viel länger in der Luft verharrt als die Glockenklänge an vielen anderen Orten. Wir verbrachten mehr als eine Stunde zusammen, und unsere Unterhaltung gab meinem Vorhaben großen Auftrieb, wie mir schien. Miss Tina akzeptierte die Situation ohne Widerworte; drei Monate lang war sie mir aus dem Weg gegangen, doch jetzt behandelte sie mich fast so, als hätten mich diese drei Monate zu einem alten Freund gemacht. Ich hätte daraus ohne weiteres schließen können, dass sie, wenngleich sie mir aus dem Weg gegangen war, gründlich darüber nachgedacht hatte, sich so zu verhalten. Sie schenkte dem Verstreichen der Zeit keine Beachtung – zeigte sich keinen Augenblick besorgt, dass ich sie so lange von ihrer Tante fernhielt. Sie sprach frei heraus, beantwortete Fragen und fragte ihrerseits und nützte auch nicht die etwas längeren Pausen, die natürlicherweise ein Gespräch unterbrachen, um einzuwerfen, sie müsse nun doch hineingehen. Vielmehr war es so, als wartete sie auf etwas – etwas, das ich zu ihr sagen könnte – und als wollte sie mir Gelegenheit dazu geben. Das erstaunte mich umso mehr, als sie mir erzählte, wie viel schlechter es ihrer Tante seit etlichen Tagen gehe, und in gewisser Weise sei diese Entwicklung ziemlich unerwartet. Sie sei merklich schwächer geworden; in manchen Momenten sei sie sogar völlig kraftlos; und doch wünsche sie häufiger als je zuvor, allein gelassen zu werden. Das war auch der Grund, warum sie sie nach draußen geschickt habe – ihr nicht einmal gestattet habe, in ihrem eigenen Zimmer zu bleiben, das neben dem der Tante lag; sie habe die arme Miss Tina sogar »ein Sorgenkind, eine Last und eine Quelle der Beschwernis« genannt. Stunde um Stunde säße sie oft regungslos da, als läge sie in tiefem
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