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Die Aspern-Schriften (German Edition)

Die Aspern-Schriften (German Edition)

Titel: Die Aspern-Schriften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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ich mich geschäftsmäßig verhielt, und dennoch entschloss ich mich, gerade das nicht zu tun. Möglicherweise hatte sie ihre Unterlassung absichtlich als Ungehörigkeit gedacht, als offensichtliche Ironie, um mir damit zu zeigen, wie sie Leute übervorteilen konnte, die sie zu übervorteilen versuchten. Wenn diese Vermutung zutraf, war es gut, ihr zu verstehen zu geben, dass man ihre kleinen Tricks nicht weiter beachtete. Wie ich später herausfand, lautete die richtige Erklärung für den Sachverhalt ganz einfach, dass die gute Dame die Tatsache herausstreichen wollte, dass ich in den Genuss eines Vorzugs gekommen war, der ebenso strikt in Grenzen gehalten wurde, wie er zuvor großzügig gewährt worden war. Sie hatte mir zwar einen Teil ihres Hauses überlassen, wollte dem aber nicht das kleinste Stück Papier mit ihrem Namen darauf hinzufügen. Dazu darf ich bemerken, dass mich dies selbst zu Beginn nicht allzu unglücklich machte, denn die ganze Situation hatte gerade durch ihre Merkwürdigkeit einen besonderen Reiz.
    Ich sah voraus, dass ich einen Sommer vor mir hatte, der ganz meinem Literatenherzen entsprach, und mein Sinn für das Spiel mit meinen Möglichkeiten war trotz allem sehr viel ausgeprägter als mein Sinn dafür, dass man mit mir spielen könnte. Es konnte in Venedig keine Geschäfte geben, für die man nicht Geduld aufbringen musste, und da ich die Stadt so sehr liebte, war ich umso mehr in der Stimmung, sie zu genießen, als ich eine große Summe Geldes in sie investiert hatte. Diese Stimmung begleitete mich nun ständig und schien aus dem zum Leben erweckten, unsterblichen Gesicht des großen Dichters, der der Anstifter zu meinen Handlungen gewesen war, aus diesem Gesicht, das seinen strahlenden Genius verriet, auf mich herabzuschauen. Ich hatte ihn heraufbeschworen, und er war gekommen; die meiste Zeit sah ich ihn vor mir schweben. Es war, als wäre sein strahlender Geist zur Erde zurückgekehrt, um mir zu versichern, dass er die Angelegenheit ebenso als die seine wie als die meine betrachtete und wir sie brüderlich und zuversichtlich zu Ende führen sollten. Es war, als hätte er gesagt: »Mein lieber Freund, sei nachsichtig mit ihr; sie hatte ein paar nur allzu verständliche Vorurteile; gib ihr ein wenig Zeit. Wenn es dir auch seltsam erscheinen mag, doch 1820 war sie sehr anziehend. Indes, sind wir nicht gemeinsam in Venedig, und welcher Ort könnte für die Zusammenkunft von guten Freunden besser geeignet sei n ? Sieh nur, wie die Stadt mit dem herannahenden Sommer erstrahlt; wie der Himmel und das Wasser, die rosige Luft und der Marmor der Palazzi im Licht schimmern und alles miteinander verschmilzt.« Mein ausgefallener persönlicher Auftrag wurde Teil der allgemeinen romantischen Stimmung und der allgemeinen Pracht – ich empfand sogar eine mystische Verbundenheit, eine moralische Brüderlichkeit mit all denen, die in der Vergangenheit im Dienste der Kunst gestanden hatten. Sie waren für die Schönheit tätig gewesen, für eine Berufung; und was tat ich andere s ? Diese Wesenszüge waren in allem, was Jeffrey Aspern geschrieben hatte, gegenwärtig, und ich brachte sie nur ans Licht.
    Wenn ich kam und ging, verweilte ich immer in der Empfangshalle; dort behielt ich die Tür im Auge – solange ich es für schicklich erachtete –, die zu Miss Bordereaus Teil des Hauses führte. Hätte mich jemand beobachtet, hätte er annehmen können, ich wollte das Gemäuer verzaubern oder unternähme ein seltsames Hypnoseexperiment. Stattdessen wünschte ich mir nur inständig, die Tür möge sich öffnen, oder dachte darüber nach, welche Schätze wohl dahinter verborgen lagen. Rückblickend kommt es mir eigentümlich vor, dass ich niemals auch nur einen Augenblick daran gezweifelt habe, dass die geheiligte Hinterlassenschaft sich dort befände; niemals hat mich das Bewusstsein der Freude verlassen, mit diesen Reliquien unter demselben Dach zu leben. Immerhin befanden sie sich in meiner Reichweite – noch waren sie mir nicht entgangen; in gewisser Weise machten sie mein Leben zu einer Fortsetzung des berühmten Lebens, das sie am anderen Ende berührt hatten. Ich ging so sehr in diesem befriedigenden Gefühl auf, dass ich in meinem stillschweigenden Überschwang sogar annahm, auch die gute Miss Tina ginge so weit zurück, ginge sogar noch weiter in die Vergangenheit zurück, wie ich es auszudrücken pflegte. Sicherlich tat sie es, die sanfte Jungfer, doch nicht bis hin zu Jeffrey Aspern, den sie

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