Die Aspern-Schriften (German Edition)
lediglich vom Hörensagen kannte, genauso wie ich. Doch sie hatte jahrelang mit Juliana zusammengelebt, hatte alle Erinnerungsstücke gesehen und in der Hand gehalten, und etwas von dem nur Eingeweihten zugänglichen Wissen hatte – selbst wenn sie dumm war – auf sie abgefärbt. Eben das war es, was die alte Frau repräsentierte – geheimes Wissen. Diese Vorstellung war es, die mein anfälliges Herz in Verzückung versetzte. Es schlug häufig tatsächlich schneller, zum Beispiel abends, wenn ich mich nach meiner Rückkehr von einem Ausgang auf dem Weg nach oben in mein Bett befand, mit einer Kerze in der Hand, und in dem hallenden Empfangssaal stehen blieb. Es war, als lägen in einem solchen Augenblick, in der völligen Stille und nachdem der ganze lange Tag mit widersprüchlichen Empfindungen angefüllt gewesen war, Miss Bordereaus Geheimnisse in der Luft, als wäre das Wunder ihres Überlebens noch intensiver spürbar. Das waren die Eindrücke, die mich bedrängten. Sie überkamen mich in anderer Gestalt, mit einem deutlicheren Anstrich von Gegenseitigkeit, in jenen Stunden, wenn ich im Garten saß und über mein Buch hinweg auf die geschlossenen Fenster meiner Wirtin sah. Niemals zeigte sich in diesen Fenstern ein Lebenszeichen; es schien, als verbrächten die beiden Damen aus Furcht, ich könnte einen Blick von ihnen erhaschen, ihre Tage im Dunklen. Doch dies verstärkte nur den Eindruck, sie hätten etwas zu verbergen; genau das aber hatte ich beweisen wollen. Die unverändert geschlossenen Fensterläden wurden so vielsagend wie bewusst geschlossene Augen, und ich tröstete mich damit, dass die beiden, die selbst unsichtbar blieben, wahrscheinlich mich zwischen den Lamellen hindurch ständig im Blick behielten.
Ich bemühte mich, so viel Zeit wie möglich im Garten zu verbringen, um dem Bild zu entsprechen, das ich ursprünglich von meinem leidenschaftlichen Interesse am Gartenbau gezeichnet hatte. Und ich verbrachte nicht nur viel Zeit dort, sondern (zum Teufel dami t ! wie ich sagte) gab auch mein kostbares Geld dafür aus. Sobald ich meine Zimmer eingerichtet hatte und mich der Frage hinreichend widmen konnte, nahm ich das Stück Land mit einem erfahrenen Fachmann in Augenschein und beauftragte ihn, es in einen ordentlichen Zustand zu versetzen. Im Grunde bedauerte ich diesen Schritt, denn mir persönlich gefiel der Garten so, wie er war, mit seinem Unkraut und dem wild wuchernden Pflanzengewirr, seiner hinreißenden, typisch venezianischen Schäbigkeit viel besser. Ich musste jedoch meinem Versprechen treu bleiben, das Haus in einem Blumenmeer versinken zu lassen. Außerdem klammerte ich mich an die verführerische Vorstellung, dass ich mit Blumen mein Ziel erreichen könnte – mit großen Blumensträußen würde ich erfolgreich sein. Mit Lilien würde ich gegen die alten Damen anstürmen – mit Rosen würde ich ihre Festung bombardieren. Ihre Tür müsste dem Druck weichen, wenn eine Woge von Wohlgeruch dagegen anbrandete.
Tatsächlich war der Garten übel vernachlässigt worden. Die Fähigkeit der Venezianer, Zeit zu vertrödeln, ist unvergleichlich groß, und etliche Tage lang war eine unüberschaubare Unordnung alles, was mein Gärtner an geleisteter Arbeit vorzuweisen hatte. Überall wurden Löcher gegraben und Erde von hier nach dort gekarrt, und nach einer Weile wurde ich so ungeduldig, dass ich am liebsten nach dem nächsten Blumenstand geschickt hätte, um so die von mir gewünschten »Ergebnisse« zu erzielen. Doch ich war sicher, meine Freundinnen würden durch die Ritzen ihrer Fensterläden hindurch erkennen, woher solche Naturgaben zweifellos nicht stammen konnten, und das gäbe ihnen Grund, an meiner Wahrheitsliebe zu zweifeln. Ich hielt also meine Leidenschaft im Zaum, und endlich, wenn auch nach langer Wartezeit, entdeckte ich die ersten Anzeichen von Blüten. Das machte mir Mut, und recht gelassen wartete ich ab, bis daraus viele geworden waren. Mittlerweile hatte der richtige Hochsommer begonnen und ging bald wieder vorüber, und wenn ich auf diese Tage zurückblicke, erscheinen sie mir fast als die glücklichsten meines Lebens. Ich achtete mehr und mehr darauf, mich im Garten aufzuhalten, wenn es nicht allzu heiß war. Ich hatte eine Laube errichtet und einen niedrigen Tisch und einen Lehnstuhl hineingestellt; ich brachte Bücher und Mappen mit Dokumenten nach draußen – immer hatte ich irgendeine Schreibarbeit zu erledigen – und arbeitete, wartete, sinnierte und hoffte,
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