Die Aspern-Schriften (German Edition)
während die goldenen Stunden verstrichen und die Pflanzen im Sonnenlicht badeten und der unergründliche alte Palazzo jegliche Farbe verlor und dann, wenn der Tag sich neigte, sich zu erholen begann und eine rosige Farbe annahm und meine Papiere in der leichten Brise, die von der Adria herüberwehte, raschelten.
Wenn ich bedenke, wie wenig Befriedigung ich zunächst daraus bezog, dann ist es doch verwunderlich, dass ich nicht stärker ermüdete bei dem Versuch herauszufinden, welche mystischen Rituale der Langeweile die beiden Damen Bordereau wohl in ihren abgedunkelten Räumen vollzogen; ob dies wohl immer der Tenor ihres Lebens gewesen war und wie sie in früheren Jahren Unstimmigkeiten mit ihren Nachbarn aus dem Weg gegangen waren. Vermutlich hatten sie damals andere Gewohnheiten, Umgangsformen und Mittel für ihren Lebensunterhalt gehabt; es stand auch zu vermuten, dass sie einst jung oder zumindest von mittlerem Alter gewesen sein müssen. Die Fragen, die man über sie stellen konnte, nahmen kein Ende, und auch die Antworten, die sich nicht einfach zusammenreimen ließen, hörten nicht auf. Ich hatte viele meiner Landsleute in Europa kennen gelernt und war daran gewöhnt zu sehen, welch seltsame Angewohnheiten sie dort nur allzu gern annahmen; aber die Damen Bordereau bildeten einen völlig neuen Typus von amerikanischen Auswanderern. Mir war klar, dass die Bezeichnung Amerikanerin für sie keineswegs mehr zutreffend war – das hatte ich in den zehn Minuten, die ich im Zimmer der alten Frau verbracht hatte, bereits erkannt. Nach der äußeren Erscheinung hätte man von keiner der beiden sagen können, woher sie stammte; woher immer das sein mochte, sie hatten schon vor langer Zeit alle typischen Merkmale und Eigenheiten abgelegt oder verlernt. Es war nichts an ihnen, was man wiedererkannte oder als passend empfand, und wenn man die Frage der Sprache einmal beiseite ließ, hätten sie ebenso gut Norwegerinnen oder Spanierinnen sein können. Miss Bordereau hatte immerhin nahezu ein dreiviertel Jahrhundert in Europa zugebracht; es ging aus mehreren Verszeilen hervor, die Aspern anlässlich seiner zweiten Auslandsreise von Amerika aus an sie gerichtet hatte – Verse, die Cumnor und ich nach endlosen Mutmaßungen schließlich einigermaßen sicher datieren konnten –, dass sie bereits damals, als ein junges Mädchen von zwanzig Jahren, auf der europäischen Seite des Ozeans gelebt hatte. Das Gedicht enthielt ein Bekenntnis – ich hoffe nicht nur um der schönen Worte willen –, dass er um ihretwillen zurückgekehrt sei. Wir hatten keine genauen Kenntnisse davon, unter welchen Umständen sie damals gelebt hatte, ebenso wenig wie von ihrer Herkunft, von der wir annahmen, es habe sich, wie man so sagt, um bescheidene Verhältnisse gehandelt. Cumnor vertrat die Theorie, dass sie Gouvernante in einer Familie gewesen sei, in welcher der Dichter verkehrte, und dass es aufgrund ihrer Position etwas Uneingestandenes, besser gesagt etwas Heimliches in ihrer Beziehung gegeben habe. Ich hingegen hatte mir eine kleine Liebesgeschichte zurechtgelegt, der zufolge sie die Tochter eines Künstlers, eines Malers oder Bildhauers, war, der die Neue Welt verlassen hatte, als das Jahrhundert gerade begonnen hatte, um die alten Kunsttraditionen kennenzulernen. Wesentlicher Bestandteil meiner Hypothese war es, dass dieser liebenswürdige Mann seine Frau verloren hatte, dass er arm und erfolglos war und eine zweite Tochter hatte, die sich in ihrem Temperament sichtlich von Juliana unterschied. Ebenso unerlässlich war es, dass er von den beiden jungen Damen nach Europa begleitet wurde und sich dort für den Rest seines mühseligen und trostlosen Lebens niederließ. Als weitere Annahme gehörte zu meiner Theorie, dass Miss Bordereau einen eigensinnigen und unbekümmerten, gleichwohl aber großzügigen und faszinierenden Charakter besessen habe und einige ungewöhnliche Herausforderungen zu bestehen hatte. Von welchen Leidenschaften war sie hingerissen worden, welche Abenteuer und Leiden hatten sie so verkümmern lassen, welchen Vorrat an Erinnerungen hatte sie für die eintönige Zukunft beiseite geleg t ?
All diese Fragen stellte ich mir, als ich in meiner Laube saß und Theorien um ihre Person ausspann, während die Bienen in den Blumen summten. Unbestreitbar gingen, ob zu Recht oder zu Unrecht, die meisten Leser bestimmter Gedichte Asperns (Gedichte, die weniger vieldeutig – doch, wie ich glaube, kaum weniger göttlich – als die
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