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Die Aspern-Schriften (German Edition)

Die Aspern-Schriften (German Edition)

Titel: Die Aspern-Schriften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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völlig unerschrocken zu sein; alles zu empfinden, zu verstehen und zum Ausdruck zu bringen.

V

    Die Abende verbrachte ich selten zu Hause, denn wenn ich mich in meinen Räumen zu beschäftigen versuchte, zog das Lampenlicht einen Schwarm lästiger Insekten an, und für geschlossene Fenster war es zu heiß. Daher verbrachte ich die Abendstunden entweder auf dem Wasser – der Mondschein in Venedig ist berühmt – oder auf dem grandiosen Platz, der der seltsamen alten Markuskirche als weitläufiger Vorhof dient. Ich saß vor dem Café Florian und aß Eis, lauschte der Musik und unterhielt mich mit irgendwelchen Bekanntschaften: Jeder Reisende wird sich erinnern, wie die vielen, dicht bei dicht stehenden Tische und kleinen Stühle sich wie ein Vorgebirge in den glatten See der Piazza hineinschieben. Der gesamte Platz wird an einem Sommerabend unter Sternen, mit all seinen Lichtern, all den Stimmen und dem Tappen leichter Schritte auf Marmor – dem einzigen Geräusch, das aus der umlaufenden Arkade dringt – zu einem Salon unter freiem Himmel, der für kühlende Getränke und einen noch erleseneren Genuss bestimmt ist, nämlich das Auskosten all der herrlichen Eindrücke, die man im Laufe des Tages in sich aufgenommen hat. Wenn ich es nicht vorzog, die meinen für mich zu behalten, fand sich immer ein allein umherstreifender Tourist, nun von seinem Baedeker befreit, mit dem ich mich darüber unterhalten konnte, oder ein hier ansässiger Maler, der die Wiederkehr der erfolgverheißenden Jahreszeit genoss. Die große Basilika mit ihren niedrigen Kuppeln und reichen Ausschmückungen, dem Mysterium ihrer Mosaike und Skulpturen, thronte geisterhaft in der milden Dämmerung, und die Meeresbrise wehte so sanft zwischen den Zwillingssäulen der Piazzetta, einer Türschwelle ohne Bewachung, hindurch, als bewegte sich dort ein herrlicher Vorhang im Wind. Manchmal, wenn ich dort saß, dachte ich an die Damen Bordereau und an das Elend, dass sie in ihrer Wohnung eingeschlossen lebten, die im venezianischen Juli selbst bei der in Venedig üblichen Weitläufigkeit nicht frei von Stickigkeit sein konnte. Ihr Leben schien mir meilenweit entfernt von dem Leben auf der Piazza, und wahrscheinlich war es einfach zu spät, die strenge Juliana zu einer Änderung ihrer Gewohnheiten zu bewegen. Die arme Miss Tina hingegen hätte ein Eis bei Florian bestimmt genossen; wiederholt hatte ich schon daran gedacht, ihr eines mit nach Hause zu bringen. Glücklicherweise trug meine Geduld Früchte, und ich musste mich nicht zu einer so lächerlichen Handlung versteigen.
    Eines Abends Mitte Juli kam ich früher als üblich nach Hause – ich weiß nicht mehr, durch welchen Zufall – und statt in meine Behausung hinaufzugehen, begab ich mich in den Garten. Es war noch immer sehr heiß; es war eine jener Nächte, die man am liebsten im Freien verbracht hätte, und ich hatte es nicht eilig, ins Bett zu gehen. Ich war in meiner Gondel nach Hause geglitten und hatte dem leisen Plätschern des Ruders im dunklen Wasser des engen Kanals gelauscht, und nun beschäftigte mich einzig der Gedanke, wie wohltuend es wäre, sich in der von Düften gesättigten Dunkelheit der Länge nach auf einer Gartenbank auszustrecken. Der Geruch des Kanals war zweifellos Auslöser dieser Vorstellung geworden, und als ich den Garten betrat, bestärkte sein Wohlgeruch mein Vorhaben. Es war köstlich – genauso muss die Luft vibriert haben, als Romeo zwischen Blumenhecken stand und beschwörend seine Arme zum Balkon seiner Geliebten erhob. Ich schaute zu den Fenstern des Palazzos hinauf, um zu sehen, ob man hier zufällig dem Beispiel von Verona folgte, denn Verona lag nicht weit entfernt. Doch alles war düster wie üblich, und alles war still. Juliana mag in den Sommernächten ihrer Jugend Jeffrey Aspern durch offene Fenster etwas zugeflüstert haben, aber Miss Tina war ebenso wenig die Geliebte eines Dichters, wie ich ein Dichter war. Das hinderte mich jedoch nicht daran, große Freude zu empfinden, als ich, am anderen Ende des Gartens angekommen, die jüngere meiner beiden Wirtinnen in einer Laube sitzen sah. Zuerst erkannte ich nur die Umrisse einer Gestalt, da ich nicht im mindesten mit einem solchen Annäherungsversuch seitens einer meiner Gastgeberinnen gerechnet hatte; mir kam sogar in den Sinn, dass ein verliebtes Dienstmädchen sich hereingeschlichen haben könnte, um hier ein Stelldichein mit ihrem Liebsten abzuhalten. Gerade wollte ich kehrt machen, um sie nicht zu

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