Die Aspern-Schriften (German Edition)
Tina hatte eine leichtfüßigere Unterhaltung erwartet, das spürte ich, aber vielleicht fand sie sie von Seiten ihrer Tante weniger liebenswürdig – in Anbetracht der Tatsache, dass ich in höflicher Absicht hergebeten worden war –, als sie gehofft hatte. Als wollte sie der Situation eine Wendung geben, die unsere Hausgenossin in einem günstigeren Licht erscheinen ließ, sagte sie zu mir: »Habe ich Ihnen nicht neulich Abend gesagt, dass Sie mich hinausgeschickt ha t ? Sie sehen, ich kann tun, was mir gefäll t !«
»Haben Sie Mitleid mit ihr – bringen Sie ihr bei, sich selbst zu bemitleide n ?« fragte Miss Bordereau, noch bevor ich Gelegenheit hatte, auf Miss Tinas Einwurf zu antworten. »Sie führt ein viel leichteres Leben als ich in ihrem Alter.«
»Sie müssen bedenken, dass ich es durchaus für möglich gehalten habe«, sagte ich, »dass Sie sozusagen übermenschlich sind.«
»Übermenschlic h ? So haben Dichter die Frauen vor hundert Jahren genannt. Fangen Sie nicht damit an; so gut wie die Poeten können Sie es doch nich t !« sagte Juliana. »Es gibt keine Poesie mehr auf der Welt – zumindest keine, von der ich weiß. Doch ich will nicht mit Ihnen streiten«, fügte sie hinzu, und ich erinnere mich gut an den altmodischen, gekünstelten Tonfall, in dem sie ihre Worte vortrug. »Sie bringen mich zum Reden, und ich rede und red e ! Das tut mir überhaupt nicht gut.« Daraufhin erhob ich mich und erklärte, ich wolle nicht mehr von ihrer Zeit in Anspruch nehmen; doch sie hielt mich mit einer Frage zurück: »Erinnern Sie sich, dass Sie uns an dem Tag, als Sie wegen der Zimmer bei mir vorsprachen, angeboten haben, Ihre Gondel zu benutze n ?« Ich stimmte zu und im selben Augenblick wunderte ich mich erneut über ihre Fähigkeit, aus meiner Anwesenheit »das Beste herauszuschlagen«, und als ich mich fragte, was sie wohl als Nächstes im Schilde führte, brachte sie hervor: »Warum fahren Sie nicht mit dem Mädchen ein wenig damit hinaus und zeigen ihr die Stad t ?«
»Aber, liebe Tante, was haben Sie denn mit mir vo r ?« rief das »Mädchen« mit bebender Stimme. »Ich kenne die Stadt in- und auswendi g !«
»Gut, dann begleite ihn und erkläre ihm alle s !« sagte Miss Bordereau, deren unerbittliche Schlagfertigkeit auch etwas Grausames hatte. Sie wirkte jetzt wie eine sarkastische, gemeine, zynische alte Frau. »Haben wir nicht gehört, dass es in all diesen Jahren alle möglichen Veränderungen gegeben haben sol l ? Du solltest sie dir anschauen, und in deinem Alter – ich meine nicht, weil du so jung bist – solltest du die Gelegenheiten ergreifen, die sich dir bieten. Du bist alt genug, meine Liebe, und dieser Gentleman wird dir nichts antun. Er wird dir die berühmten Sonnenuntergänge zeigen, sofern es sie noch gibt – gibt es sie noc h ? Für mich ist die Sonne schon vor so langer Zeit untergegangen. Aber das ist kein Grund. Außerdem werde ich dich niemals vermissen; du hältst dich für zu wichtig. Nehmen Sie sie mit zur Piazza; dort war es immer sehr schön«, fuhr Miss Bordereau fort, nun zu mir gewandt. »Was hat man mit der seltsamen alten Kirche angestell t ? Ich hoffe, sie ist nicht eingestürzt. Geben Sie ihr Gelegenheit, sich in den Geschäften umzuschauen; sie kann etwas Geld mitnehmen und sich kaufen, was ihr gefällt.«
Die arme Miss Tina war aufgestanden, völlig aus der Fassung gebracht und hilflos, und wie wir beide nun dort vor ihrer Tante standen, wäre einem Beobachter dieser Szene sicherlich klar geworden, dass unsere ehrbare Freundin gehörig ihr Spielchen mit uns trieb. Miss Tina protestierte in einem Gewirr aus Ausrufen und Gemurmel; doch ich beeilte mich, ihr zu versichern, dass ich mich dafür verbürgen wolle, sofern sie mir die Ehre erwiese, die Einladung auf mein Boot anzunehmen, ihr keinerlei Unannehmlichkeiten zu bereiten. Doch falls sie meine Gesellschaft weniger erwünschen sollte, stände ihr das Boot mitsamt dem Gondoliere zur Verfügung: er sei ein hervorragender Ruderer, und sie könne ihm voll und ganz vertrauen. Miss Tina antwortete nicht gleich auf dieses Angebot, sondern wandte den Blick von mir ab und schaute aus dem Fenster, als finge sie gleich an zu weinen, und ich fügte die Bemerkung an, dass wir uns nun, da wir Miss Bordereaus Zustimmung hatten, leicht über alles einigen könnten. Wir würden für einen der nächsten Tage eine Zeit verabreden, welche immer ihr genehm wäre. Als ich mich vor der alten Dame verbeugte, fragte ich sie, ob
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