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Die Aspern-Schriften (German Edition)

Die Aspern-Schriften (German Edition)

Titel: Die Aspern-Schriften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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Empfangssaal abgeschlossen? Das wäre ein klares Zeichen gewesen, dass ich sie in Ruhe lassen sollte. Wenn ich sie aber nicht in Ruhe ließ, musste sie annehmen, dass ich eine Absicht hatte, eine Absicht, die nun in der völlig überspitzten Annahme ihre Begründung fand, dass sie den Sekretär aufgeschlossen habe, um mir einen Gefallen zu tun. Sie hatte den Schlüssel nicht stecken lassen, wahrscheinlich aber würde der Deckel sich heben lassen, wenn ich am Knauf zog. Diese Vermutung setzte mir enorm zu, und ich beugte mich weit vor, um mir die Sache aus der Nähe anzuschauen. Ich hatte nicht die Absicht, irgendetwas zu tun, nicht einmal – aber auch nicht im Geringsten – den Deckel herunterzuziehen; ich wollte lediglich meine Theorie einer Bewährungsprobe unterziehen, wollte sehen, ob sich der Deckel tatsächlich bewegte. Ich berührte den Knauf mit der Hand – schon eine leichte Berührung würde es mir verraten; und im selben Moment – es ist mir unangenehm, dies zu berichten – schaute ich über meine Schulter zurück. Es war ein Zufall, ein Reflex, denn ich hatte keinerlei Geräusch gehört. Bei dem Anblick, der sich mir bot, ließ ich fast meine Leuchte fallen, trat sicherlich einen Schritt zurück und richtete mich auf. Juliana stand dort in ihrem Nachtgewand, stand auf der Schwelle zu ihrem Zimmer und beobachtete mich; sie hatte die Hände erhoben, und der ewige Vorhang, der eine Hälfte ihres Gesichts bedeckt hatte, war gelüftet, sodass ich zum ersten, zum letzten und zum einzigen Mal ihre außergewöhnlichen Augen sah. Sie starrten mich wütend an; sie wirkten wie der plötzliche Lichtstrahl von einer Gaslampe, der einen auf frischer Tat ertappten Dieb einfängt; dieser Blick machte mich entsetzlich beschämt. Niemals werde ich diese seltsame kleine, gebeugte, weiße schwankende Gestalt mit ihrem hoch erhobenen Kopf vergessen, niemals ihre Haltung, ihren Gesichtsaudruck; und ebenso wenig werde ich den Ton vergessen, in dem sie in leidenschaftlicher Wut hervorstieß, als ich mich umdrehte und ihr ins Gesicht sah: »Ach Sie, Sie Schurke von einem Schreiberlin g !«
    Ich kann nicht mehr sagen, was ich zu meiner Entschuldigung, zur Erklärung der Situation gestammelt habe; doch ich ging auf sie zu, um ihr zu versichern, dass ich nichts Böses im Sinn gehabt hätte. Sie scheuchte mich mit ihren alten Händen fort, wich voller Entsetzen vor mir zurück; und das Letzte, woran ich mich erinnere, war, dass sie in einer plötzlichen Zuckung nach hinten fiel, als wäre der Tod über sie gekommen, und in Miss Tinas Arme sank.

IX

    Ich verließ Venedig am nächsten Morgen, unmittelbar nachdem ich erfahren hatte, dass meine Wirtin nicht, wie ich im selben Augenblick gefürchtet hatte, dem Schock erlegen war, den ich ihr versetzt hatte – dem Schock, wie ich genauso gut sagen könnte, den sie mir versetzt hatte. Wie um alles in der Welt hätte ich damit rechnen können, dass sie in der Lage war, aus eigener Kraft aus dem Bett aufzustehen? Es gelang mir nicht, Miss Tina vor meiner Abreise noch einmal zu sehen; ich traf nur die Dienerin an, der ich ein Briefchen für die jüngere der beiden Damen übergab. In dieser Nachricht teilte ich ihr mit, dass ich nur für ein paar Tage außer Haus wäre. Ich fuhr nach Treviso, nach Bassano, nach Castelfranco; ich unternahm Spaziergänge und Ausfahrten und schaute mir muffige alte Kirchen mit schlecht beleuchteten Gemälden an; ich verbrachte Stunden damit, rauchend an den Türen von Cafés zu sitzen, wo es Fliegen und gelbe Vorhänge gab und die meist an der Schattenseite von verschlafenen kleinen Plätzen lagen. Trotz dieses Zeitvertreibs, den ich mechanisch und oberflächlich absolvierte, genoss ich meine Reise kaum: Ich hatte eine bittere Pille schlucken müssen und wurde den Nachgeschmack nicht wieder los. Es war, wie die jungen Leute sagen würden, teuflisch ungeschickt von mir gewesen, mich von Juliana mitten in der Nacht dabei erwischen zu lassen, wie ich die Ausrüstung ihres Sekretärs untersuchte. Und es war nicht weniger unangenehm, dass ich etliche Stunden lang hatte befürchten müssen, ich hätte sie mit aller Wahrscheinlichkeit umgebracht. Die Erniedrigung setzte mir zu, aber ich musste das Beste daraus machen, musste sie einerseits in meinem Schreiben an Miss Tina herunterspielen und andererseits die Verantwortung für meine Handlung, bei der ich entdeckt worden war, übernehmen. Da sie mir keine Antwort zukommen ließ, konnte ich nicht wissen, welchen

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