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Die Aspern-Schriften (German Edition)

Die Aspern-Schriften (German Edition)

Titel: Die Aspern-Schriften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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Eindruck ich bei ihr hinterlassen hatte. Es nagte an mir, dass man mich einen schurkischen Schreiberling genannt hatte, da ich ja tatsächlich schrieb und ebenso unbestreitbar nicht sehr viel Taktgefühl bewiesen hatte. Es gab Momente, in denen ich überzeugt war, ich könne mich nur dadurch von meiner Schande entlasten, dass ich mich auf der Stelle aus dem Staub machte; dass ich meine Hoffnungen begrub und die beiden armen Frauen für immer von dem bedrückenden Umgang mit mir befreite. Dann wieder ging mir durch den Kopf, dass ich es lieber zuerst mit einer kurzen Abwesenheit versuchen sollte, denn ich muss bereits eine Ahnung davon gehabt haben (unausgesprochen und vage), dass ich mit meinem vollständigen Verschwinden nicht nur meine eigenen Hoffnungen zunichte machen würde. Vielleicht wäre es eine Lösung, wenn ich mich längere Zeit nicht mehr blicken ließ, um der alten Dame Zeit zu geben, bis sie überzeugt wäre, mich los zu sein. Dass sie mich nach dem Vorgefallenen los sein wollte – wenn ich schon nicht von ihr loskam –, daran bestand jetzt kein Zweifel mehr; diese mitternächtliche Ungeheuerlichkeit muss sie von ihrer Bereitschaft geheilt haben, sich um meiner Dollars willen mit meiner Gesellschaft abzufinden. Ich überlegte mir, dass ich Miss Tina nach alledem nicht einfach zurücklassen konnte, und ich sagte mir das auch weiterhin, selbst als ich feststellen musste, dass sie meine ernsthaften Bitten völlig ignorierte – ich hatte ihr zwei oder drei Adressen in kleinen Städten angegeben, jeweils poste restante –, mir doch ein Zeichen zu geben, wie ihr gegenwärtiges Befinden sei. Ich hätte meinen Diener beauftragt, mir die Neuigkeiten schriftlich mitzuteilen, aber er war unfähig, eine Feder zu führen. Konnte ich die Geringschätzung in Miss Tinas Schweigen nicht ermessen – wo sie sich doch sonst so gar nicht verächtlich verhielt? Es bedrückte mich wirklich sehr; doch meine Bedenken, dorthin zurückzukehren, waren ebenso groß wie die, es nicht zu tun, und erst einmal wollte ich über mein Handeln Sicherheit gewinnen. Am Ende ging es so aus, dass ich am zwölften Tag nach Venedig zurückkehrte; und als meine Gondel sanft gegen die Stufen der Anlegestelle stieß, zeigte mir mein vor Aufregung leicht klopfendes Herz, wie sehr meine Abwesenheit mich geschmerzt hatte.
    Ich hatte diesen Entschluss so plötzlich gefasst, dass ich nicht einmal meinem Diener telegrafiert hatte. Daher war er auch nicht am Bahnhof, um mich abzuholen, streckte aber den Kopf aus einem Fenster in der oberen Etage, als ich am Haus ankam. »Man hat sie schon unter die Erde gebracht, quella vecchia «, sagte er zu mir, als er mir in der unteren Eingangshalle entgegenkam, um meinen Koffer auf die Schultern zu nehmen; und dabei grinste er und blinzelte mir zu, als wüsste er, dass ich mich über diese Nachricht freuen müsste.
    »Sie ist to t !« rief ich aus, und warf ihm einen ganz gegenteiligen Blick zu.
    »So scheint es zu sein, da man sie beerdigt hat.«
    »Es ist also schon alles vorbei? Wann war das Begräbnis?«
    »Vorgestern. Aber man kann es kaum Begräbnis nennen, Signore: roba da niente – un piccolo passeggio brutto, die Fahrt zum Friedhof nur mit zwei Gondeln. Poverett a !« setzte der Mann hinzu, womit er sich offenbar auf Miss Tina bezog. Er hatte von Begräbnissen die Vorstellung, dass sie vor allem dem Vergnügen der Lebenden dienten.
    Ich wollte etwas über Miss Tina erfahren, wie es ihr ging und wo sie sich jetzt meistens aufhielt; aber ich stellte ihm keine weiteren Fragen, bis wir oben angekommen waren. Nun, da ich vor die vollendete Tatsache gestellt war, fühlte ich mich unbehaglich, vor allem war mir die Vorstellung unangenehm, dass die arme Miss Tina nach dem Todesfall alles allein hatte in die Hand nehmen müssen. Was wusste sie schon darüber, wie man solche Dinge regelte, welche Schritte man in solchen Fällen zu unternehmen hatte? Wirklich eine Poverett a ! Ich konnte nur hoffen, dass der Arzt ihr zur Seite gestanden hatte und sie nicht von den alten Freunden im Stich gelassen worden war, von denen sie mir erzählt hatte, der kleinen Schar von Getreuen, deren Anhänglichkeit darin bestand, sie einmal im Jahr zu besuchen. Meinem Diener konnte ich entlocken, dass zwei alte Damen und ein alter Herr sich tatsächlich um Miss Tina gekümmert hatten – sie hatten sie in ihrer eigenen Gondel abgeholt und ihr auf der Überfahrt zum Friedhof, der kleinen rot ummauerten Friedhofsinsel, die nördlich

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