Die Aspern-Schriften (German Edition)
der Stadt auf dem Weg nach Murano liegt, Beistand geleistet. Aus diesen Tatsachen schloss ich, dass die Damen Bordereau katholisch waren, was mir bisher entgangen war, da die alte Frau nicht zur Kirche gehen konnte und ihre Nichte, soweit ich es beobachten konnte, es auch nicht tat oder aber zur Frühmesse in die Pfarrkirche ging, noch bevor ich aufgestanden war. Sicherlich respektierten auch die Priester ihr zurückgezogenes Leben; nie hatte ich auch nur den Saum einer Soutane im Haus erblickt. Am selben Abend, nur eine Stunde später, schickte ich meinen Diener mit einer Karte hinunter, auf der ich mit wenigen Worten bei Miss Tina anfragte, ob sie ein paar Minuten für mich Zeit hätte. Sie befände sich nicht im Haus, nicht dort, wo er nach ihr gesucht habe, erklärte er mir bei seiner Rückkehr, sondern sie ginge im Garten umher, um frische Luft zu schöpfen und Blumen zu pflücken, ganz als gehörten sie ihr. Er habe sie dort angetroffen, und sie würde sich freuen, mich zu sehen.
Ich ging hinunter und verbrachte eine halbe Stunde mit der armen Miss Tina. Sie hatte immer schon so ausgesehen, als sei sie in Trauer, als trüge sie alte Trauerkleider auf, als ginge ihre Trauer nie zu Ende. Darum sah sie in ihrem jetzigen Kleid nicht anders aus als sonst. Aber es war sichtbar, dass sie geweint, sehr viel geweint hatte – einfache, befreiende, erfrischende Tränen, die aus einem ursprünglichen, erst jetzt einsetzenden Gefühl von Einsamkeit und Schmerz erwuchsen. Sie zeigte jedoch keine Gesten einer Trauernden, und ich war fast überrascht, sie dort in der gerade hereinbrechenden Dämmerung stehen zu sehen, den Arm voll herrlicher Rosen und mir mit geröteten Augen zulächelnd. Ihr blasses Gesicht, von der Mantilla umrahmt, wirkte länger und schmaler als sonst. Ich hatte nicht daran gezweifelt, dass sie mir einen unüberwindlichen Abscheu entgegenbringen würde, dass sie mir vorwerfen würde, ich hätte an Ort und Stelle sein müssen, um ihr mit Rat zur Seite zu stehen, um ihr zu helfen; und obwohl ich überzeugt war, dass sie von Natur aus nicht zum Groll neigte und ihren eigenen Angelegenheiten keine allzu große Bedeutung beimaß, war ich innerlich darauf gefasst, eine Veränderung in ihrem Verhalten vorzufinden, Anzeichen von Verletztsein und Befremden, die mir ins Gewissen reden sollten: »Was sind Sie nur für ein Mensch, mit all Ihren Beteuerunge n !« Doch die Geschichte verpflichtet mich zur Wahrheit, und so muss ich gestehen, dass der dumpfe Gesichtsausdruck der guten Dame plötzlich nicht mehr dumpf war, fast war ihr Antlitz nicht einmal mehr reizlos zu nennen, als sie es freundlich dem Mieter ihrer verstorbenen Tante zuwandte. Das berührte ihn sehr stark, und er dachte, es würde seine Situation einfacher machen, bis er herausfand, dass dies nicht zutraf. Ich war an diesem Abend so freundlich zu ihr, wie ich nur sein konnte, und ich ging mit ihr so lange im Garten spazieren, wie es mir schicklich schien. Es gab keinerlei Erklärungen zwischen uns; ich fragte sie nicht, warum sie meine Briefe nicht beantwortet hätte. Und noch viel weniger wiederholte ich, was ich ihr in diesen Schreiben mitgeteilt hatte; wenn sie in mir den Eindruck erwecken wollte, sie hätte vergessen, in welcher misslichen Lage mich Miss Bordereau überrascht hatte und welche Wirkung diese Entdeckung auf die alte Frau ausgeübt hatte, dann war ich nur allzu bereit, das so zu akzeptieren: Ich war ihr dankbar, dass sie mich nicht so behandelte, als hätte ich ihre Tante umgebracht.
Wir schlenderten immer weiter, doch es spielte sich nicht viel zwischen uns ab, außer dass ich ihr meine Anteilnahme an ihrem Verlust bekundete, was ich vor allem durch mein Verhalten zeigte, und sie ihrerseits brachte mir zum Ausdruck, wie sehr sie immer noch an mir hing, zumal ich sie spüren ließ, wie sehr ich mich immer noch für ihre Belange interessierte.
Miss Tina war nicht der Mensch, der Stolz auf seine Unabhängigkeit bekundet oder diese gar vorgegeben hätte; sie tat nicht im Geringsten so, als wüsste sie bereits, was aus ihr werden sollte. Ich hielt mich jedoch zurück, auf diese Frage näher einzugehen, weil ich auf keinen Fall bereit war, ihr anzubieten, mich um sie zu kümmern. Ich war vorsichtig; nicht aus niederen Motiven, denke ich, vielmehr hielt ich ihre Lebenserfahrung für so gering, dass es in ihrer unverbildeten Sichtweise keinen Grund gegeben hätte, warum ich nicht – zumal ich Mitleid mit ihr zu haben schien – in
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