Die Aspern-Schriften (German Edition)
eingeschlossen zu sein; Gärten und große Säle schienen mir geeigneter für ein Gespräch. Es war ein herrlicher Morgen, und es lag etwas in der Luft, wodurch sich das Ende des langen venezianischen Sommers ankündigte; eine frische Brise vom Meer her, die die Blumen im Garten hin und her wehen ließ und für einen angenehmen Luftzug im Haus sorgte, das nun weniger mit Fensterläden vergattert und verdunkelt war als zu Lebzeiten der alten Frau. Es war der Beginn des Herbstes, das Ende der goldenen Monate. Und damit war auch das Ende meines Experiments gekommen – oder würde im Laufe der nächsten halben Stunde eintreten, wenn ich wirklich erfahren hätte, dass mein Traum zu Asche zerfallen war. Danach wäre hier nichts mehr für mich zu tun, als zum Bahnhof zu gehen; denn im Ernst gesprochen – wie es mir im ersten Morgenlicht vollends bewusst geworden war – ich konnte doch nicht länger hier verweilen, um den Wächter für ein Bündel weiblicher Hilflosigkeit in mittleren Jahren zu spielen. Wenn sie die Schriften nicht gerettet hatte, wofür sollte ich dann in ihrer Schuld stehen? Mir scheint, ich zuckte ein wenig zusammen, als ich mir die Frage stellte, wie viel ich ihr denn schuldig wäre, wenn sie die Papiere doch gerettet hätte, und womit ich eine solche Gefälligkeit dann belohnen müsste. Würde dieser Dienst mir nicht letztlich aufbürden, eine Art Vormundschaft für sie zu übernehmen? Dass diese Vorstellung kein größeres Unbehagen in mir auslöste, während ich auf und ab ging, lag nur daran, dass ich überzeugt war, ich hätte nichts dergleichen zu gewärtigen. Wenn die alte Frau noch nicht alles vernichtet hatte, bevor sie mich in ihrem Wohnraum überraschte, dann hatte sie dies am Tag darauf getan.
Miss Tina brauchte erheblich länger, als ich erwartet hatte, sich meiner Einschätzung folgend zu verhalten; doch als sie schließlich herauskam, sah sie mich ohne jedes Erstaunen an. Ich ließ die Bemerkung fallen, dass ich schon auf sie gewartet hätte, und sie fragte, warum ich sie das nicht hätte wissen lassen. Ein paar Stunden später war ich froh, dass ich mich gerade noch hatte zügeln können, ihr zu antworten, dass eine freundliche Intuition es ihr hätte sagen können; es geriet mir zum Trost, dass ich nicht einmal bei einer so geringfügigen Gelegenheit mit ihrer Feinfühligkeit gespielt hatte. Was ich tatsächlich zu ihr sagte, war im Grunde die Wahrheit – dass ich zu beunruhigt gewesen sei, da ich erwartete, sie werde nun über mein weiteres Schicksal entscheiden.
»Ihr Schicksal?« sagte Miss Tina und warf mir einen befremdeten Blick zu; und während sie sprach, bemerkte ich eine seltsame Veränderung bei ihr. Ja, sie war anders als am Abend zuvor – weniger natürlich und weniger unbeschwert. Sie hatte am Tag zuvor geweint, und jetzt weinte sie nicht, und dennoch kam sie mir weniger zuversichtlich vor. Es war, als wäre im Laufe der Nacht irgendetwas mit ihr geschehen oder als hätte sie über etwas nachgedacht, das sie beunruhigte – etwas, das speziell ihre Beziehung zu mir betraf und sie peinlicher und komplizierter gestaltete. War ihr nur einfach bewusst geworden, dass sich meine Stellung dadurch, dass ihre Tante nicht mehr da war, nun verändert hatte?
»Ich meine bezüglich unserer Papiere. Sind tatsächlich welche vorhanden? Sie müssten es jetzt wissen.«
»Ja, es gibt eine ganze Menge; mehr, als ich vermutet hatte.« Ich bemerkte, wie sehr ihre Stimme bei diesen Worten zitterte.
»Wollen Sie damit sagen, Sie haben sie dort drinnen – und ich dürfte sie sehen?«
»Ich glaube nicht, dass Sie sie sehen können«, sagte Miss Tina mit einem ungewöhnlich flehenden Ausdruck in den Augen, als wäre es ihre innigste Hoffnung überhaupt, dass ich ihr diese nicht wegnähme. Aber wie konnte sie ein solches Opfer von mir erwarten, nach allem, was zwischen uns geschehen war? Wozu war ich nach Venedig zurückgekommen, wenn nicht, um diese Schriften zu sehen und sie mitzunehmen? Meine Freude darüber, dass sie noch existierten, war dermaßen groß, dass ich es nur als einen schlechten Scherz hätte ansehen können, wenn die arme Frau vor mir auf die Knie gegangen wäre und mich angefleht hätte, die Papiere nie wieder zu erwähnen. »Ich habe sie, aber ich darf sie niemandem zeigen«, fügte sie kläglich hinzu.
»Auch mir nich t ? Ach, Miss Tin a !« rief ich protestierend aus, und mein Tonfall klang unendlich vorwurfsvoll.
Sie wurde rot, und wieder traten ihr Tränen in die
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