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Die Aspern-Schriften (German Edition)

Die Aspern-Schriften (German Edition)

Titel: Die Aspern-Schriften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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könnten damit tun, was Sie wollten. Ich könnte Sie nicht davon abhalten – und Sie trügen nicht die Verantwortung.«
    Diese drollige Erklärung trug sie so hastig und nervös vor, als brächte sie Worte hervor, die sie auswendig gelernt hatte. Sie erweckten in mir den Eindruck einer hintergründigen Spitzfindigkeit, der ich zunächst nicht zu folgen vermochte. Doch nach einer Weile half mir ihr Gesichtsaudruck, sie besser zu verstehen, und dann ging mir ein Licht auf, ein höchst sonderbares Licht. Es war mir peinlich, und ich beugte meinen Kopf über Jeffrey Asperns Bildnis. Welch seltsamer Ausdruck zeigte sich in seinem Gesich t ! »Sieh zu, dass du da rauskommst, alter Jung e !« Ich steckte das kleine Bild in meine Manteltasche und sagte zu Miss Tina: »Gut, ich werde es für Sie verkaufen. Ich werde auf keinen Fall tausend Pfund dafür bekommen, aber sicherlich einen guten Preis.«
    Sie sah mich durch einen bemitleidenswerten Tränenschleier an, versuchte aber wohl zu lächeln, als sie antwortete: »Wir können uns das Geld teilen.«
    »Nein, nein, es soll alles Ihnen gehören.« Und ich fuhr fort: »Ich glaube, ich weiß, was Ihre arme Tante sagen wollte. Sie wollte Anweisungen geben, dass ihre Papiere mit ihr begraben werden sollten.«
    Miss Tina schien diesen Vorschlag abzuwägen; dann antwortete sie mit erstaunlicher Entschiedenheit: »Oh nein, das hätte sie nicht für sicher gehalte n !«
    »Mir scheint, nichts könnte sicherer sein.«
    »Sie hatte die Vorstellung, dass Leute, die etwas veröffentlichen wollen, in der Lage wären …!« Und sie hielt inne, lief puterrot an.
    »Ein Grab zu schänden? Um Gottes willen, was muss sie von mir gedacht habe n !«
    »Sie war nicht gerecht, sie war nicht großzügi g !« rief meine Begleiterin in einem plötzlichen Gefühlsausbruch aus.
    Das Licht, das mir kurz zuvor aufgegangen war, erhellte immer mehr das Dunkel. »Ach, sagen Sie nicht so etwas, so schrecklich ist nun einmal der Menschenschlag.« Dann fuhr ich fort: »Wenn sie ein Testament hinterlassen hat, könnte Ihnen das vielleicht einen Hinweis geben.«
    »Ich habe nichts dergleichen gefunden – sie hat es vernichtet. Sie hatte mich sehr gern«, fügte Miss Tina in einem Anfall von größter Inkonsequenz hinzu. »Sie wollte, dass ich glücklich bin. Und wenn irgendjemand gut zu mir sein sollte – dann wollte sie das berücksichtigen.«
    Ich war fast von Ehrfurcht ergriffen durch soviel Scharfsinn, der die gute Dame so plötzlich beflügelt hatte, eine geradezu durchsichtige Schlauheit, aber, wie man so sagt, mit heißem Faden genäht. »Darauf können Sie sich verlassen, auf keinen Fall wollte sie irgendeine Bestimmung aufnehmen, die mir angenehm gewesen wäre.«
    »Nein, nicht Ihnen, aber doch mir. Sie wusste, dass es mir gefallen würde, wenn Sie Ihre Pläne ausführen könnten. Nicht weil ihr an Ihnen etwas lag, sondern weil sie mein Wohl im Sinn hatte«, fuhr Miss Tina in ihrer unerwarteten Redegewandtheit fort, die durchaus überzeugend wirkte. »Sie könnten die Papiere sehen – Sie könnten sie auch benutzen.« Sie hielt inne, als sie sah, dass ich den Sinn ihres Konditionals erfasste – hielt lange genug inne, um mir die Zeit für ein Zeichen zu geben, das ich nicht gab. Es muss ihr jedoch zu Bewusstsein gekommen sein, dass mein Gesicht, auch wenn es die größte peinliche Betroffenheit zeigte, die sich wohl je in einem menschlichen Antlitz abgezeichnet hatte, keineswegs steinern im Ausdruck war, sondern ebenso voller Mitgefühl. Noch lange Zeit danach war es mir ein Trost, wenn ich mir sagen konnte, dass sie an mir nicht das kleinste Anzeichen von Respektlosigkeit wahrgenommen haben kann. »Ich weiß nicht, was ich tun soll; mich plagen zu viele Zweifel. Ich schäme mich zu seh r !« fuhr sie in heftiger Erregung fort. Dann wandte sie sich von mir ab, begrub ihr Gesicht in den Händen und brach in eine Flut von Tränen aus. Wenn sie nicht wusste, was sie tun sollte, kann man sich gut vorstellen, dass ich es auch nicht besser wusste. Sprachlos stand ich da und betrachtete sie, während ihre Seufzer in der großen leeren Halle widerhallten. Ganz plötzlich wandte sie sich wieder mir zu, tränenüberströmt. »Ich würde Ihnen alles geben, und sie würde es verstehen, dort, wo sie jetzt ist – sie würde mir vergebe n !«
    »Ach, Miss Tina – ach, Miss Tina«, stammelte ich statt einer Antwort. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, wie ich bereits sagte, doch aufs Geratewohl machte ich eine

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