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Die Aspern-Schriften (German Edition)

Die Aspern-Schriften (German Edition)

Titel: Die Aspern-Schriften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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Augen; ich ermaß, welch große Qual es sie kostete, einen solchen Standpunkt einzunehmen, den ein unerbittliches Pflichtbewusstsein ihr auferlegt hatte. Fast machte es mich wütend, mich diesem speziellen Hindernis ausgesetzt zu sehen; zumal ich den Eindruck hatte, ich sei ausdrücklich ermutigt worden, es außer Betracht zu lassen. Mit Nachdruck erinnerte ich Miss Tina daran, sie habe mir versichert, dass sie, sofern es keine schwerwiegenderen Hinderungsgründe gäbe als diese …! »Sie wollen doch nicht sagen, dass Sie ihr auf dem Sterbebett ein Versprechen gegeben hätten? Genau davor, dass Sie so etwas tun, fühlte ich mich sicher. Ach, hätte sie die Papiere doch vollständig verbrannt, das wäre mir lieber gewesen, als mit solch einem Verrat fertig werden zu müssen.«
    »Nein, es hat kein Versprechen gegeben«, sagte Miss Tina.
    »Ich bitte Sie, was ist dann der Grund?«
    Sie ließ mit der Antwort auf sich warten, aber schließlich sagte sie: »Sie hat versucht, sie zu verbrennen, aber ich habe sie davon abgehalten. Sie hatte sie in ihrem Bett versteckt.«
    »In ihrem Bett …?«
    »Zwischen den Matratzen. Dorthin hatte sie sie gelegt, nachdem sie sie aus dem Schrankkoffer geholt hatte. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie das bewerkstelligt hat, weil Olimpia ihr nicht dabei geholfen hat. Zumindest versichert sie mir das, und ich glaube ihr. Erst hinterher hat meine Tante es ihr gesagt, damit sie es nicht auseinander nimmt, sondern nur frisch bezieht. Darum war es sehr schlecht gemacht«, fügte Miss Tina schlicht hinzu.
    »Das kann ich mir vorstelle n ! Und wie wollte sie sie verbrenne n ?«
    »Sie selbst hat keine großen Anstrengungen unternommen; dazu war sie in den letzten Tagen viel zu schwach. Aber sie trug es mir auf – sie verlangte es von mir. Es war einfach schrecklic h ! Nach jener Nacht konnte sie nicht mehr sprechen. Sie konnte nur noch Zeichen geben.«
    »Und was haben Sie geta n ?«
    »Ich habe sie dort herausgenommen. Dann habe ich sie weggeschlossen.«
    »Im Sekretä r ?«
    »Ja, im Sekretär«, sagte Miss Tina und errötete erneut.
    »Haben Sie ihr gesagt, Sie würden sie verbrenne n ?«
    »Nein, das habe ich absichtlich nicht getan.«
    »Absichtlich, mir zu Gefallen?«
    »Ja, genau darum.«
    »Und was soll mir das alles nun nützen, wenn Sie mir am Ende doch keinen Einblick gewähren?«
    »Überhaupt nichts, ich weiß – das weiß ich nur zu gut«, ließ sie bedrückt verlauten.
    »Und war sie in dem Glauben, Sie hätten sie vernichtet?«
    »Ich weiß nicht, was sie letztlich geglaubt hat. Ich konnte ihr nichts mehr sagen – sie war zu weit entrückt.«
    »Wenn es also weder ein Versprechen noch eine Zusicherung gegeben hat, dann verstehe ich nicht, woran Sie sich gebunden fühlen.«
    »Ach, es war ihr so zuwider, einfach zuwide r ! Sie hat so eifersüchtig darüber gewacht. Aber hier ist das Porträt – Sie können es haben«, verkündete die gute Frau und holte das kleine Bildnis aus ihrer Tasche, das immer noch in dasselbe Papier gewickelt war, in das ihre Tante es gepackt hatte.
    »Ich kann es haben – wollen Sie damit sagen, dass Sie es mir schenken?« fragte ich erstaunt, als sie es mir übergab.
    »Aber ja.«
    »Es ist aber wertvoll – es ist eine Menge Geld wert.«
    »Ja gu t !« sagte Miss Tina, und sie hatte immer noch diesen seltsamen Ausdruck im Blick.
    Ich wusste nicht, wie ich das verstehen sollte, denn es konnte wohl kaum bedeuten, dass sie wie ihre Tante mit mir handeln wollte. Sie hörte sich so an, als wollte sie es mir tatsächlich schenken.
    »Ich kann es nicht als Geschenk von Ihnen annehmen«, sagte ich, »aber ich kann es mir auch nicht leisten, Ihnen soviel dafür zu bezahlen, wie Miss Bordereau sich vorgestellt hatte. Sie veranschlagte seinen Wert auf etwa tausend Pfund.«
    »Könnten wir es nicht verkaufen?« warf meine Freundin ein.
    »Um Gottes wille n ! Das Bild bedeutet mir mehr als das Geld.«
    »Gut, dann behalten Sie es.«
    »Sie sind sehr großzügig.«
    »Sie auch.«
    »Ich weiß nicht, wie Sie darauf kommen«, erwiderte ich; und das entsprach durchaus der Wahrheit, denn das gute Geschöpf schien etwas im Sinn zu haben, was ihr besonders wichtig war, ich aber nicht im geringsten begriff.
    »Nun, Sie haben eine große Veränderung in mein Leben gebracht«, sagte sie.
    Ich betrachtete Jeffrey Asperns Gesicht auf dem kleinen Gemälde, auch um nicht in das meiner Begleiterin schauen zu müssen, das mich inzwischen zunehmend irritierte, mich sogar ein

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