Die Aspern-Schriften (German Edition)
wenig erschreckte – denn es hatte einen so seltsamen, so angestrengten und unnatürlichen Ausdruck angenommen. Ich antwortete nicht auf diese letzte Äußerung; doch stillschweigend fragte ich Jeffrey Asperns herrliche Augen mit den meinen um Rat – sie waren so jung und strahlend und doch so weise und tief; ich wollte von ihm wissen, was um alles in der Welt mit Miss Tina geschehen sei. Er schien mich etwas spöttisch anzulächeln; wahrscheinlich hätte er sich über meinen Fall amüsiert. Um seinetwillen war ich in eine so missliche Lage geraten – als hätte er das nötig gehab t ! Zum ersten und einzigen Mal seit ich ihn kannte, erwies er sich für mich als unzulänglich. Das hinderte mich jedoch nicht, da ich nun das kleine Bildnis in der Hand hielt, es als einen kostbaren Besitz anzusehen. »Ist dies eine Bestechung, damit ich die Papiere aufgebe?« fragte ich geistesgegenwärtig, aber ziemlich boshaft. »So hoch ich es auch schätze, wie Sie wissen, doch wenn ich wählen müsste, würde ich die Schriften vorziehen. Oh ja, auf jeden Fal l !«
»Wie sollten Sie wählen können – wie können Sie wählen?« erwiderte Miss Tina, und sie sprach langsam und bekümmert.
»Ich versteh e ! Selbstverständlich lässt sich dazu nichts weiter sagen, wenn Sie das Verbot, das Ihnen auferlegt wurde, als völlig unaufhebbar betrachten. In diesem Fall müsste es Ihnen als Pietätlosigkeit der übelsten Art, ganz schlicht als Tempelschändung vorkommen, wenn jemand die Schriften mitnähm e !«
Sie schüttelte den Kopf, ganz verloren in das Unlösbare ihres Falls. »Sie würden es verstehen, wenn Sie sie gekannt hätten. Ich habe Angs t !« Sie zitterte plötzlich. »Ich habe Angs t ! Sie war schrecklich, wenn sie verärgert war.«
»Ja, davon habe ich in jener Nacht eine Kostprobe bekommen. Sie war schrecklich. Damals habe ich ihre Augen gesehen. Mein Gott, wie wunderschön sie ware n !«
»Ich sehe sie noch immer – sie starren mich im Dunkeln a n !« sagte Miss Tina.
»Sie sind nervös nach allem, was Sie durchgemacht haben.«
»Oh ja, sehr – wirklich seh r !«
»Machen Sie sich keine Sorgen; das geht vorüber«, sagte ich freundlich. Dann fügte ich resigniert hinzu, denn es schien mir nun wirklich klar, dass ich die Situation so akzeptieren musste: »So ist es nun einmal, und es lässt sich nicht ändern. Ich muss verzichten.« Meine Freundin, die ihre Augen fest auf mich gerichtet hatte, gab daraufhin ein leises Ächzen von sich, und ich fuhr fort: »Ich wünschte nur, um des lieben Friedens willen, sie hätte sämtliche Schriften vernichtet; dann gäbe es nichts mehr dazu zu sagen. Und ich kann nicht verstehen, warum sie es bei ihren Vorstellungen nicht getan hat.«
»Sie hat davon geleb t !« sagte Miss Tina.
»Sie können sich vielleicht vorstellen, dass das meinen Wunsch nicht kleiner macht, sie zu sehen«, antwortete ich nicht ganz so verzweifelt. »Aber lassen Sie mich nicht so vor Ihnen stehen, als hätte ich im Sinn, Sie zu einer niederen Handlung zu verführen. Natürlich, das werden Sie verstehen, gebe ich meine Räume auf. Ich verlasse Venedig unverzüglich.« Damit nahm ich meinen Hut, den ich auf einem Stuhl abgelegt hatte. Wir standen noch immer recht unbequem mitten im Empfangssaal. Sie hatte die Tür zu ihren Wohnräumen hinter sich offen gelassen, mich jedoch nicht dorthinein gebeten.
Ein seltsames Zucken durchfuhr ihr Gesicht, als sie sah, wie ich meinen Hut ergriff. »Unverzüglich – Sie meinen, noch heute?« Der Klang dieser Worte war trostlos – ein verzweifelter Hilferuf.
»Aber nein; nicht so lange ich Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein kann.«
»Gut, nur noch ein oder zwei Tage – nur noch zwei oder drei Tage«, hauchte sie und schnappte nach Luft. Dann gewann sie wieder die Beherrschung und fügte in anderem Tonfall hinzu: »Sie wollte mir etwas sagen – am letzten Tag – etwas ganz Besonderes. Aber sie konnte nicht.«
»Etwas ganz Besonderes?«
»Irgendetwas über die Papiere.«
»Und haben Sie es erraten – haben Sie irgendeine Vorstellung?«
»Nein, ich habe versucht, es herauszufinden – aber ich weiß es nicht. Ich habe schon alle Möglichkeiten bedacht.«
»Welche zum Beispiel?«
»Nun, dass alles ganz anders wäre, wenn Sie ein Verwandter wären.«
Ich verstand nicht gleich. »Wenn ich ein Verwandter wäre …?«
»Wenn Sie kein Fremder wären. Dann wäre es dasselbe für Sie wie für mich. Alles, was mir gehörte, gehörte auch Ihnen, und Sie
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