DIE ASSASSINE
zierten saubere, gewundene Goldnähte am Kragen und am Saum. Die Linien krümmten sich empor, sodass es aussah, als wäre die Frau von den verschwommenen Umrissen lodernder Flammen umhüllt. Ihre Haut war glatt, nicht runzlig vor Alter, wie die Stimme hätte erwarten lassen.
Es waren vor allem ihre Augen, die mich bannten. Sie waren von einem unergründlichen tiefen Braun. Trotz des ebenholzschwarzen Haares der Frau waren die Augen auf seltsame Weise das dunkelste Merkmal ihres schmalen Gesichts. Sie fesselten mich, bannten mich, gestatteten mir nicht, den Blick abzuwenden. Sie befehligten mich, wiesen mich an, zu gehorchen, noch ehe die Frau sprach.
»Du bist gekommen, um mich zu töten«, sagte sie. Diesmal war ihre Stimme weder die des Kindes noch die der Sängerin, noch der alten Frau, sondern eine eigenartige Mischung aller drei, wobei weitere Stimmen mitschwangen, die ich aber nicht erkennen konnte. »Also tu es.«
Meine Schultermuskeln zuckten, und ein beunruhigendesGefühl kroch mir den Rücken hinunter. Ich war an der Frau vorbeigegangen, als ich den Saal durchsucht hatte, so nah, dass sie die Hand hätte ausstrecken und mich berühren, mich hätte töten können. Ich hatte sie nicht gesehen, nicht einmal gespürt. Mein Rücken spannte sich; plötzlich fühlte ich mich verwundbar und ungeschützt.
Und wütend. Sie spielte mit mir, stieß mich herum wie die Katze eine Maus.
»Warum konnte ich dich nicht sehen?«, fragte ich mit schroffer Stimme. Innerlich jedoch zitterte ich und versuchte herauszufinden, was sie wollte, was sie brauchte. War sie wahnsinnig? Oder tat sie das nur zur Belustigung?
Ihre Stirn legte sich einen Lidschlag lang in Falten; dann lächelte sie. »Weil du mich nicht sehen willst. Du bist gekommen, um mich zu töten, aber du willst es nicht tun. Es ist so viel einfacher, nicht zu töten, wenn man das Opfer nicht finden kann, nicht wahr, Varis?« Mit verengten Augen neigte sie das Haupt. »Aber jetzt siehst du mich. Und du hast nicht viel Zeit, Varis. Ich kann die Wachen nur für eine gewisse Dauer beschäftigen. Sie können nicht ewig ferngehalten werden. Auch nicht Baill.«
Als wären sie von ihr ins Leben gerufen worden, pochten Wachen an einen der Seiteneingänge zum Thronsaal. Die Tür dämpfte ihre Stimmen. Es krachte und dröhnte, als die Männer versuchten, die Tür mit Gewalt zu öffnen. Die Geräusche hallten laut im Saal wider.
Die Regentin rührte sich nicht. »Töte mich jetzt, Varis. Früher oder später werden sie den Weg herein finden.«
Doch ich rührte mich nicht. Ich traute ihr nicht. Das Bild der Katze und der Maus in meinen Gedanken war zu lebendig.
Das Krachen und Dröhnen der Tür endete. Stattdessen ertönten nun Schreie. Jemand rief nach Baill, jemand anders nach Avrell.
»Du musst mich töten«, forderte die Regentin mich in sanftem und sachlichem Tonfall auf. »Du musst mich töten, oderdie Stadt wird untergehen. Es hat bereits begonnen. Du hast es gesehen. Am Siel, am Kai, sogar hier im Palast.« Die Frau hob den Kopf, stand herrisch und reglos da. »Und ich will sterben, Varis«, fügte sie mit immer noch ruhiger Stimme hinzu. »Ich will , dass du mich tötest.«
Kaltes Erschrecken durchzuckte mich vom Hals bis zu den Zehen. Der Dolch fühlte sich plötzlich schwer in meiner Hand an, mein Körper hingegen seltsam leicht.
»Warum?«, fragte ich. Meine Stimme klang fern.
Sie lächelte – und nun sah ich den Wahnsinn in ihren Augen, den ich bereits im Lachen des Kindes, im Lied und in der Stimme der Greisin gehört hatte. Doch als ich ihr ins Gesicht blickte, erkannte ich, dass sie den Wahnsinn im Zaum hielt. Irgendwie hatte die wahre Regentin trotz des Irrsinns die Macht über ihren Geist und ihren Körper behalten und klammerte sich nun mit kalter, eherner Verzweiflung an sich selbst. Doch die Kontrolle entglitt ihr immer mehr. Wenn ich nicht bald handelte, würde sie die Herrschaft über sich verlieren.
»Ich zerstöre Amenkor, Varis«, sagte sie mit kräftiger, aber zitternder Stimme. »Das Feuer hat mir irgendetwas angetan, sodass ich nicht mehr über den Thron gebieten kann. Der Thron selbst übernimmt immer mehr die Herrschaft über mich und Amenkor. Du musst mich töten, ehe er vollends die Macht erlangt!«
Immer noch unsicher, zögerte ich.
Plötzlich verhärtete sich die Miene der Regentin.
»Tu es«, stieß sie hervor, und ihre Stimme erfüllte den Saal. »Bitte …«
Es war das Zittern in dem letzten Wort, das mich schließlich
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