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DIE ASSASSINE

DIE ASSASSINE

Titel: DIE ASSASSINE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joshua Palmatier
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Sohn schimpfte, ehe sie mit ihren Sprösslingen von dannen zog. Die Gelegenheit, mir einen Apfel zu schnappen, war dahin.
    »Was willst du?«, fragte ich und richtete meine Aufmerksamkeit auf den Mann. Plötzlich wurde mir klar, dass ich ihn kannte, dass ich die fein geschneiderte Hose und das weiße Hemd mit den Rüschen am Kragen schon einmal gesehen hatte.
    Es war der Mann, der den Händler mit dem roten Mantel auf dem Dock begleitet hatte.
    »Ich … nein, eigentlich jemand anders … möchte mit dir reden.« Er richtete sich auf und ließ die ausgestreckte Hand sinken; dann zuckte er zusammen. Als er die andere Hand von der Brust nahm, sah ich ein paar Blutflecken auf dem Weiß seines Hemds.
    Ich unterdrückte einen Anflug von Schuldgefühlen. »Wozu?«
    Der Mann zögerte, ehe er steif antwortete: »Das weiß ich nicht. Du müsstest ihn schon selbst fragen.«
    Ich runzelte die Stirn.
    Er hatte kurzes schwarzes Haar, wild und ungebändigt, aber nicht schmutzig oder verfilzt. Sein Gesicht war rundlich, die Haut ein wenig blass. Er hatte grüne Augen, in denen ein Ausdruck von Furcht lag und die noch immer vor Schreck aufgerissen waren. Immer wieder huschte sein Blick zu meinem Dolch. Doch unter der Furcht verbarg sich kein Hass, keine Verachtung, kein Mitgefühl.
    Ich steckte den Dolch zurück unter mein Hemd. »Wo?«
    Erleichtert seufzte er, und die Spannung floss aus seinen Schultern. »Nicht weit weg. Mein Name ist William.« Er streckte mir die Hand entgegen, als erwartete er eine milde Gabe, wie ein Bettler.
    Verwirrt starrte ich auf seine Hand und sagte: »Varis.«
    Nach ein paar Lidschlägen zog er die Hand zurück und hüstelte hinein. »Ah, ja. Varis. Wenn du mir bitte folgen würdest …«
    Er setzte sich in Bewegung, verließ die Docks und steuerte über den Kai auf das wahre Amenkor zu.
    Ich wartete einen Augenblick und überlegte, ob ich davonhuschen sollte.
    Dann aber folgte ich ihm. Wegen des Geruchs von Orangen.

    Wir gingen durch die Seitenstraßen des Kais. William hielt sich zehn Schritte vor mir. Ich folgte ihm argwöhnisch. Meine Blicke huschten zu jedem roten Schemen. Ich war beunruhigt und bewegte mich langsam, vorsichtig. William drehte sich einmal zu mir um; sein Blick suchte den meinen, und er lächelte ermutigend. Der Duft von Orangen überlagerte nun sogar den Geruch von Meer und Salz.
    Unsicher blieb ich stehen, rang mit einer anderen Empfindung, die tief in meinen Eingeweiden wühlte und mein Inneres zittern ließ.
    Williams Lächeln schwand, und er kam zu mir zurück. »Es ist nicht mehr weit«, sagte er.
    Er streckte die Hand aus, als wollte er wieder meinen Arm ergreifen, doch ich wich zurück, und mein Blick wurde hart.
    »Geh weiter«, forderte ich ihn auf und nickte die Straße hinunter. William ging weiter, allerdings erst nach einem verwirrten Blick.
    Ein paar Straßen weiter hielt er an einer Tür unter einem Schild aus Holz, in das ein Schiff geschnitzt war, die Segel zerrissen und ausgefranst, der mittlere Mast gebrochen. Als er die Tür öffnete und mir bedeutete, dass ich eintreten sollte, schallten Gelächter und ein Dutzend Stimmen ins Freie.
    Ich trat zurück und schaute William an. Ich wusste, dass es sich um eine Schänke handelte, denn ich hatte solche wüsten Geräusche schon oft gehört und kannte die Gerüche. Aber immer von der Straße, vom Siel aus. Ich war noch nie in einer Schänke gewesen.
    William legte die Stirn in Falten und musterte mich sorgenvoll, während er wartete. Er konnte mein Zaudern nicht begreifen.
    Ehe er etwas sagen konnte, straffte ich die Schultern und trat an ihm vorbei durch die Tür.
    Der plötzliche Ansturm von Empfindungen war so überwältigend wie die Wucht der Geräusche, Bewegungen und Gerüche. Ein Dutzend Unterhaltungen, zwanzig Stimmen oder mehr, brandeten aus dem Hintergrundrauschen, tosten daraus hervor wie ein Sturm, der in dem kleinen Raum gefangen war. Tausend Gerüche trafen mich wie ein Schlag – Feuer, Bier, Schweiß, Talg, Fäulnis, gekochtes Fleisch, Brot, Hitze –, alles vermischt und verdichtet, so sehr, dass ich würgen musste. Und durch die Geräusche und Gerüche bewegten sich in der matten Übergangszone zwischen Sonnen- und Kerzenlicht Menschen: Sie klopften einander auf den Rücken, erhoben sich wankend von Tischen, gingen auf das Feuer zu, griffen nach Essen, husteten, rülpsten, trugen Becher mit Bier umher, aßen und tranken und stopften sich voll.
    Es war zu viel. Der Fluss brach über mich herein; das

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