Die Aufrichtigen (German Edition)
hängen. Die junge Frau hauchte ihren Namen und eine Dankesfloskel. Er ließ sich schwer in seinen Sitz fallen, fest davon überzeugt, sie noch vor wenigen Jahren mit einem Gespräch über Kunst oder Politik oder was auch immer eingefangen und zu ein paar anregenden Stunden verleitet zu haben. Mit seinen beinahe sechzig Jahren war er ruhiger oder besser gesagt, bequemer geworden und vermied es schon wegen der Mühseligkeiten, sich in allzu große Abenteuer zu stürzen. Mit einem Lächeln bedauerte er, so wohlanständig geworden zu sein. Ob er sich nicht doch neben sie setzen und ein paar Worte über den Frühling verlieren sollte, der sich schon überall zeigte?
Dr. Albertz hasste den Frühling, denn er führte ihm jedes Jahr vor Augen, dass er, wie jeder Mann, nach dem festgelegten Schema funktionierte. Es war die Abhängigkeit von körperlichen Bedürfnissen, die er ablehnte, wie jede andere Art der Abhängigkeit auch. Im Frühling wurde ihm bewusst, wie sehr er Frauen und Sex brauchte. Ein urzeitlich menschlicher Instinkt, der bei ihm durch die zivilisatorischen Einflüsse nicht abgemildert worden war. Sein fortgeschrittenes Alter verschärfte das Verlangen mehr, als dass es zur Linderung beigetragen hätte. Zudem erschwerte es den Erfolg und verdeutlichte manchmal auf schmerzlich Weise die Absurdität seiner Lage. Wie lächerlich, die junge Frau anzusprechen, sich interessant zu machen, um dann in einem noblen Hotel wieder das alte Spiel zu beginnen.
Vielleicht würde er stolpern, aber fallen, fallen würde er nicht! Es war ein prächtiges Gefühl, sich auszutoben. Geld und Sex waren die wichtigen Dinge in Dr. Albertz‘ Leben. Je nach Laune variierte die Reihenfolge. Mit Ausnahme seiner Kinder, die er abgöttisch liebte, gab es keinen, den er nicht für seine Zwecke einsetzte. Irgendwann hatte sein Herz aufgehört, für die anderen Menschen zu schlagen. Ob es Liebe war, was ihn noch immer an seine Frau band? Vielleicht. Sie langweilte ihn nicht und stieß ihn nicht ab. Er hatte sich restlos an sie gewöhnt, und es gab keine andere, die es bisher so lange mit ihm ausgehalten hatte. Genügend Gründe also, um bei ihr zu bleiben.
Niemals wäre er bereit gewesen, wegen seiner gelegentlichen Affären etwas an seinen Lebensumständen zu ändern. Trennung oder Scheidung waren nicht definierte Begriffe in der kunstvollen Gleichung seines Lebens. Er suchte nicht nach Alternativen, es ging schlicht um Sex, hemmungslosen Sex, woraus er keinerlei Hehl machte. Der Reiz der Eroberung, die Jagd und Verführung fesselten ihn. Das Sexuelle war so etwas wie der Brennstoff seines Daseins, eine Triebfeder, die stets unter Spannung stehen musste, damit er funktionierte.
Leute, die wegen einer Frau alles hinwarfen, hatten einfach zu wenig Disziplin. Man musste die Kraft aufbringen, sich zu entscheiden und die getroffene Entscheidungen bis zum Ende durchzuführen. Auch deswegen hasste Dr. Albertz den Frühling, weil es ihm dann schwerer fiel, seine Menschlichkeit, seine Männlichkeit im Zaum zu halten. Dieser Napoleon Hill hatte schon Recht mit seiner lächerlichen These, der Schlüssel des Erfolges läge in der dauerhaften Unterwerfung der sexuellen Kraft für etwas praktisch Nützliches. In den übrigen Jahreszeiten bestand keine Gefahr, wegen einer viel zu jungen Frau das Leben wegzuwerfen, wegen einer Laune die Arbeit zu vernachlässigen. Wenn es so weit erst gekommen ist, macht man kleine Fehler, die mit immer größeren Fehlern ausgeglichen werden müssen. So beginnt der Abstieg, langsam aber sicher, bis man alles verloren hat. All das für ein paar feuchte Küsse, ein Paar nasse Lippen? Unmöglich mit jeder Frau zu schlafen, die einem gefiel, tröstete er sich.
Sex war ein Synonym für Natur und guter Sex hieß soviel, wie im Einklang mit der Natur zu leben. Dr. Albertz gefiel sich darin, sich selbst für einen schlichten Menschen zu halten, den das Leben, die Zeit und der Reichtum nicht verdorben hatten. Nach seiner Einschätzung war er der Alte geblieben, der Einzige, der das zu Recht von sich behaupten durfte. Er glaubte an sich, seine eigene Kraft und war damit bestens gefahren. Die Idee vom göttlichen Funken, der von einem höheren Wesen gestifteten Seelenhaftigkeit, fand er lächerlich. Was anderes sollte der Mensch sein, als ein Stück Biologie? Es gab eine Bandbreite an Möglichkeiten, innerhalb derer man sich bewegen konnte und es war, verdammt noch mal, eines jeden Pflicht, diesen Rahmen auszuschöpfen. Dr.
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