Die Aufrichtigen (German Edition)
Albertz legte es darauf an, seine Grenzen zu überschreiten. Dann lebte er auf und funktionierte zuverlässig. Wovon sollte man ihn denn erlösen? Er hatte doch alles und Demut brauchte er nicht.
Die Trennung von Körper, Geist und Seele leuchtete ihm nicht ein, die Verneinung des Körperlichen, seine Dämonisierung hielt er sogar für das zentrale Problem der abendländischen Kultur. Wie konnte man nur behaupten, richtig guter Sex sei etwas Sündhaftes! Derlei diente nur der Kontrolle. Trotz sorgfältigen Nachdenkens war ihm nie eine andere Begründung eingefallen, weswegen sich die Religiösen so sehr für das Sexualleben der Leute interessierten. Natürlich war guter Sex heilig — aber nicht im Mindesten religiös. Die monogame Ehe war eine zivilisatorische Fehlentwicklung, die auf dem grundlegenden Irrtum beruhte, Körper und Seele zu trennen. Für Dr. Albertz war der Mensch ein sich selbst regelnder Organismus, der Geist spielte sich im Nervensystem ab und kam nicht von außen. Es gab kein übergeordnetes Programm. Außerdem konnte man die Art viel besser erhalten, wenn man mit der Treue nicht gar so kleinlich verfuhr.
Die junge Frau beobachtete ihn. Er erwiderte den Blick. Sie lächelte und sah ihm einen Moment zu lange in die Augen, ehe sie sich wieder in ihr Magazin vertiefte. Dr. Albertz mochte diese selbstbewussten Mädchen, besonders wenn sie Geschmack bewiesen.
Mochten man ihn doch für amoralisch halten und ihm seine Lebensweise vorwerfen. Er wusste für sich und seine Familie zu sorgen und erfüllte seine Pflichten zuverlässig. Nur dazugehören genügte ihm nicht, das Selbstverständliche blieb reizlos. Seine Triebhaftigkeit im ursprünglichsten Sinne war nie auf die große Entsprechung gestoßen. Er fühlte sich daher allein mit sich und seiner Überzeugung, dass Körper, Geist und Seele so wie Mann, Frau und Sex nur verschiedene Aspekte ein und derselben Sache waren.
Nun wollte er doch die junge Frau ausprobieren. Sollte sich seine Ankunft eben um einen Tag verzögern. Er hatte sowieso keine Lust, den Professor in der Kanzlei zu treffen. Blum würde sich schon etwas einfallen lassen. Dr. Albertz schaltete sein Handy aus. Als er aufsah, stand die Frau neben ihm im Durchgang.
»Wie schade, dass ich hier aussteigen muss«, sagte sie, »ich hätte zu gerne ein paar Worte mit Ihnen gewechselt. Vielleicht ein andermal?«
»So ein Zufall«, erwiderte Dr. Albertz, »aber gerade fällt mir ein, dass ich auch aussteigen muss. Es wäre mir eine Freude, Sie zu begleiten?«
Die Frau grinste über das ganze Gesicht.
»Nach meiner Meinung«, fuhr Dr. Albertz fort, »ist es äußerst misslich, dass wir uns mit unseren Trieben nicht identifizieren. Der Mensch macht sich hochwertige Gedanken über das Wesen der Welt oder über Chopins Walzer. Er fühlt sich nicht als Tier im Sinne Darwins. Vielleicht sucht er deswegen nach tieferen Gründen, wenn er bloß seinen Neigungen nachgehen oder — nur angenommen — mit einer hübschen Frau schlafen will. Das ist das zentrale Problem der Struktur unseres Geistes.«
»Wie meinen Sie das?« Ihr Lachen war umwerfend.
»Nun, vielleicht ist es an der Zeit, Dummheiten zu machen!«
Erlösung für die Besiegten
Die Römer waren es gewohnt, dass sich die eroberten Völker unterwarfen. Die Gesellschaftsstruktur der Unterlegenen blieb erhalten, man griff auf die vorgefundenen Hierarchien zurück und mischte sich nicht ein. Die Juden allerdings beugten sich der römischen Zwangsherrschaft nicht. Seit Mitte des ersten Jahrhunderts leisteten sie den Besatzern blutigen Widerstand. Dies bewog die Römer nach Ausbruch des Bar Kochba Aufstandes im Jahr 132, den jüdischen Staat gänzlich zu zerschlagen, ihn seiner Krieger, seiner Kultur und nicht zuletzt seiner Ehre zu berauben. Josephus Flavius, ein übergelaufener jüdischer Feldherr, beschreibt den Niedergang in seinem »Jüdischen Krieg« eindrucksvoll.
Doch mit jeder Niederlage wuchs der Messiasglaube der Juden. Die ersten drei Evangelien und viele der apokryphen Evangelien entstanden zwischen dem ersten und dem zweiten jüdischen Krieg. Zuerst motivierte der hochstilisierte Erlöser die Juden, sich gegen die übermächtigen Römer zu erheben und tröstete dann die Geschlagenen. In dieser Zeit muss sich Jesus in Christus verwandelt haben.
Kein Wunder, dass diese Figur sich wie ein Lauffeuer im römischen Reich ausbreitete. Es bestand zum größten Teil aus Eroberten. Das Urchristentum war die Religion der
Weitere Kostenlose Bücher