Die Aufrichtigen (German Edition)
Mit jedem kritischen Wort läuft er Gefahr, einen unverzeihlichen Fehler zu begehen, sein Heil zu verspielen. Der ganze Glaube, eine jede Religion ist auf die Fehlbarkeit des Einzelnen ausgelegt. Und da die Reformer meist auch die gläubigsten Christen sind, müssen sie unweigerlich in die eigene Falle tappen. Daher versprühen sie auch diese schwermütige Aura des bewussten Sündigens, diese morbide Verzweiflung. Oder warum sonst riechen die Gläubigen so streng? Blum, wachen Sie auf! Irgendwann werden die Reformer leiser, vorsichtiger, demütiger, meist mit Herannahen des eigenen Todes – und spätestens mit dessen Eintritt triumphiert die alte Kirche!«
»Könnte das bei Professor Spohr auch so gewesen sein?«
Die Bequemlichkeit des Schweigens, das ganze so tun als ob, erschienen Leo plötzlich falsch und gefährlich. Die Religion in all ihren Spielarten war viel zu präsent, als dass man sich Passivität leisten konnte. Dr. Albertz gab keine Antwort und lief weiter im Zimmer hin und her.
»Warum wurde der Prozess geführt, wenn die konstantinische Schenkung als Fälschung längst entlarvt war?«, fragte Leo.
»Spohr war nicht einfach damit zufrieden, die Fälschung textanalytisch zu beweisen. Ich glaube, das war nur ein Vorwand.«
»Wofür?«
»Er stellte die Fälschung in einen neuen Kontext. Es ging ihm gar nicht mehr um die Urkunde oder das Papsttum, sondern um den Glauben an sich. Seine These war, dass die Kirche es geschafft hatte, ihre politische Macht zu ›verinnerlichen‹. Bei allem politischen Ränkespiel war der Glaube verloren gegangen. Die Kirche hat ihn sich einverleibt und übt ihre Herrschaft scheinbar harmlos in den Seelen der Leute aus, ganz indirekt und meistens unaufdringlich. Der kirchliche Führungsanspruch ist verinnerlicht worden. Die Kontrolle erfolgt über Moral und sogenannte Werte, über das System von Sünde und Vergebung. Ohne die Mittlerrolle der Kirche, so Spohrs These, sollten die Menschen denken, an Gottes Offenbarung keinen Anteil haben zu können. Die Kirche hat ihre weltliche Macht, vor allem nach dem II. Weltkrieg, weitgehend eingebüßt, und doch ging sie letztlich gestärkt aus ihrem vermeintlichen Niedergang hervor, als supranationale Werteinstanz. Damit kontrolliert sie zwar nicht mehr direkt ein nennenswertes Staatsgebiet, nimmt aber indirekt enormen Einfluss auf die Mehrzahl der westlichen Staaten. Die eigenen Machtansprüche werden einfach über die christlichen Werte transportiert und über die Ausübung moralischen oder sozialen Drucks durchgesetzt. Sehen Sie denn diesen Wahnsinn nicht? Gott ist wieder in, Christen sind wieder salonfähig und die Leute lieben die Pfaffen um so mehr, je reaktionärer und absurder ihre Vorstellungen sind. Alle, die nicht mitmachen wollen, werden scheel angesehen und ausgegrenzt. Die Kirche holt zum großen Schlag aus. Die Evangelisierung der Welt läuft auf Hochtouren, mein lieber Blum. Die einen ziehen mit Gottes Segen in den heiligen Krieg gegen den Islam, die anderen konvertieren nach getaner Arbeit zum Katholizismus! Ein Staatsoberhaupt nach dem anderen besucht den Papst, er wird hofiert, inszeniert und instrumentalisiert. Und dabei nützt das niemandem so sehr wie dem Papst selbst. Er ist genauso Ratgeber für die europäische Verfassung, wie er zum Vermittler zwischen der islamischen und der westlichen Welt hochstilisiert wird. Ausgerechnet dieser alte Mann! Als seien die Probleme der Welt religiöser Natur!«
»Aber sind sie das nicht auch? Ein Wettbewerb der Weltanschauungen?«
»Nein, nein, Blum! Die Probleme der Welt sind nicht religiöser Natur. Das Problem der Welt ist die Religion!«
Der Chef fuhr mit der flachen Hand durch sein Haar.
»Die Religionen«, fuhr er fort, »sprechen seit jeher die Sprache der Gewalt. Wer einen Wettbewerb durchführt, will ihn gewinnen. Er glaubt, der Bessere zu sein. Sonst würde er doch gar nicht antreten. Die Religion kennt kein olympisches Motto, dabei sein ist eben nicht alles! Spohr vertrat in seinem Buch zwei wesentliche Thesen: Zum einen, dass es moralische Werte lange vor dem Christentum gegeben und die Kirche sich diese nur zueigen gemacht und umgestaltet hat. Zum anderen glaubte er, dass dasselbe mit der Botschaft Jesu‘ geschehen sei. Er fragte sich, welches Vertrauen ein Vermittler, wie die Kirche es in Glaubensfragen zu sein behauptet, in Anspruch nehmen kann, der gezielt mit Fälschungen arbeitet. Der Lügner, da sind wir uns alle einig, hat es nicht verdient,
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