Die Aufrichtigen (German Edition)
schob er die Hände nach vorn, tastete links, tastete rechts, stieß an etwas, das da regungslos lag und nachgab, wie wenn man einen Menschen anstößt. Sein Herz setzte aus. Ein Mensch! Ein Mensch, den er nur tasten aber nicht sehen konnte, der sich nicht regte, nicht auswich, wie es Lebendige tun. Da war ein Bein, ein Arm, eine Brust. Darüber – doch noch ehe Maiorinus das Gesicht zu ertasten wagte, zog er die Hände zurück, legte sie auf den Boden, um die überreizten Nerven an den Fingerkuppen zu beruhigen. Dabei stieß er zufällig an die Taschenlampe und hielt sie dankbar fest. Es war beinahe wie Hoffnung. Vor Zittern brauchte er beide Hände, um die Lampe einzuschalten. Endlich flammte der Lichtkegel auf. Er presste die Augen zusammen, blinzelte, seine Haare sträubten sich. Schließlich öffnete er die Augen wieder, weil er ja nicht ewig hier kauern und beten konnte, dass nicht wahr sei, was er im Schein der Lampe erkannt zu haben fürchtete.
Er sah in ein kaltes Gesicht, einen verzerrten Mund, aufgerissene Augen, die sich in seine Seele bohrten. Auf dem Teppich lag ein toter Mann. In den zitternden Händen warf die Lampe wilde Schatten. Nur die Schatten zuckten, nicht der Tote, wenn es auch beinahe so aussah. Das war der Professor! Noch gab der Körper nach, noch war die Leichenstarre nicht eingetreten. Maiorinus sah seine Lage mit schonungsloser Klarheit und wollte es nicht wahrhaben. Er saß neben dem Mann, in dessen Haus er eingebrochen, den zu bestehlen er geschickt worden war, dessen Safe er aufzubrechen versucht, dessen Fensterscheibe er zerbrochen, den er in der Dunkelheit abgetastet hatte. Dieser Mann war tot! Alles, was der Pater ihm gesagt hatte, gab plötzlich einen anderen, einen entsetzlichen Sinn! Der Professor pflege einen besonders tiefen Schlaf! Der Schlüssel befinde sich im Schreibtisch! Er solle das Messer nehmen! Der Junge kannte die Gerüchte, die sich um den Pater rankten, vom Kampf in Nordafrika, den er als einziger unverletzt überstanden hatte.
Maiorinus rüttelte an den Beinen des Toten, nur um ganz sicher zu gehen. Irgend jemand musste den Professor schon vorher getötet haben. Wenn es von dieser Tat je irgendwelche Spuren gegeben haben sollte, er hatte sie sicherlich verwischt und tausend eigene hinterlassen. Wer sollte ihm glauben? Er war gar nicht Maiorinus, der tapferste Kämpfer der Circumcellionen. Er war nicht der auserwählte Diener des Herrn, der noch vor den anderen zum Lohn die Herrlichkeit Gottes schauen sollte. Er war nicht der Liebling des Paters, der nicht sündigte, wenn er nachts für ihn die Bettdecke zurückschlug. Er war nur ein Junge, der auf dem Fußboden kauerte und zusah, wie der alte Mann allmählich steif wurde.
Für einen kurzen Moment suchte Maiorinus nach einem Ausweg. Konnte er die Spuren auslöschen und leise verschwinden? Das kaputte Fenster, die Türklinken, der Handlauf der Treppe – all das konnte man mit einem Lappen abwischen. Aber die Kratzer an der Safetür würden bleiben. Außerdem steckte die Messerspitze in der Spalte. Er müsste auch den toten Professor abreiben, seine Beine, Arme — oh mein Gott! Es war der einzige Ausweg, die einzige Chance. In seiner Jackentasche suchte er verzweifelt nach einem Taschentuch. Er würde sein Hemd zerreißen müssen, um einen Lappen daraus zu machen. Als er die Taschenlampe auf den Tisch stellen wollte, um die Hände frei zu bekommen, hielt er ohne Absicht ihren Lichtkegel in das Gesicht des Professors. Da waren wieder die Augen, die starren Augen, die gar nicht mehr leblos wirkten, sondern sich direkt auf ihn zu richten schienen. Maiorinus fuhr zusammen, sein Bein schnellte unkontrolliert nach vorn, stieß an den Leichnam, der nach hinten kippte. Das wirkte wie eine Bewegung im trügerischen Schein der Lampe, wie wenn das Leben in den Toten zurückgekehrt wäre.
Der junge Mann schrie auf und stürzte zur Tür, rannte in wilder Panik die Treppe hinunter, stieß im Wohnzimmer einen Stuhl um und erreichte das Esszimmer, wo er durch das zerbrochene Fenster endlich dem Schreckenshaus entkam. Beim Sprung durch das Fensters schnitt er sich an einer Glasscherbe in die linke Hand. Seine Jacke verfing sich am Saum. Er riss sie los, wobei er sich mit seinem Blut besudelte. Endlich war er frei! Er warf sich in die noch lichte Hecke, und rannte mit zerkratztem Gesicht über den Spazierweg auf die Laterne zu. Licht, nur Licht, Licht, um die Augen abzuschütteln, die ihn noch immer verfolgten.
Pater Donatus
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