Die Aufrichtigen (German Edition)
sein! Etwas weiter hinten stand noch eine Urnenwand, die älter als die anderen wirkte. Die Ziffern waren kaum zu lesen. C01, C02. Hier war es also, hier sollte sie zum ersten Mal ihre Schwester treffen! Wie gerne hätte ich dich gekannt, hätte dir Eislaufen beigebracht und du wärst zu mir ins Bett gekrochen. Wo bist du nur gewesen, all die Jahre? Du hast mir so gefehlt.
Die Tafel mit der Nummer C23 war die Vorletzte der mittleren Reihe. Ein frischer kleiner Kranz hing darüber. Der Kirschbaum neben der Urnenwand stand in voller Blüte. Im Sonnenlicht strahlte die Inschrift auf der blankpolierten Tafel, als sei sie von hinten erleuchtet:
Du bist uns nur vorausgegangen
Und wirst nicht hier nach Haus verlangen.
Wir holen dich ein auf jenen Höh‘n
im Sonnenschein, der Tag ist schön!
Schlaf gut, mein Kind, Mariechen Spohr,
geboren und gestorben am 5.9.1981
Julia schlug die Hände vor die Augen. Seit dem Tod ihres Vaters war sie stark gewesen, nun ließ sie ihrer Traurigkeit freien Lauf. Die Tränen spülten alles mit sich, den Zorn, die Wehmut, alles Gezwungene. Frei würde sie sein und rein, könnte die Trauer nur trocknen. Hier lag die Asche ihrer Schwester, hier lag Mariechen Spohr. Sie wischte sich schnell über die Augen. Eine der vier Zierschrauben fehlte. Die Tafel war an der rechten unteren Ecke nach oben gebogen.
Uhlig, ein Arbeiter der Friedhofsverwaltung, hatte an diesem Tag Dienst. Eigentlich arbeitete er gern an den Feiertagen, weil ihn das bei den Kollegen beliebt machte und er an solchen Tagen ohnehin nicht wohin mit sich wusste. Diese Woche allerdings hatte man ihn nachhaltig in seiner Ruhe gestört. So stapfte er missmutig vom Gerätehaus zu der alten Urnenwand. Als er dort die trauernde Gestalt sah, erfüllte sich sein Herz mit Mitleid. Diskret, wie er es in all den Jahren gelernt hatte, räusperte er sich und sagte leise, dass der Schaden an der Tafel doch nicht so schlimm sei und man deshalb doch nicht weinen müsse. Julia sah ihn verwundert an und fragte, wie das passiert sei.
»Das waren keine Rowdys, oder was sie denken«, antwortete der Arbeiter. »Das muss einer von ihren Leuten gewesen sein.«
»Was meinen Sie damit?«
»Naja, ich habe ja nur gedacht. Am Dienstag Nachmittag war der Professor hier. Er kam fast jeden Tag und wir haben manchmal miteinander geredet. Eigentlich sollte ich etwas an der Mauer reparieren, aber er hatte so etwas im Blick, ich weiß nicht. Also habe ich mich aus dem Staub gemacht. Mit Trauernden soll man nicht diskutieren.«
»Mein Vater?«
»Na, fragen Sie mich nicht! Auf jeden Fall ist er weg, als ich zurück komme, um meine Arbeit weiterzumachen. Und was glauben Sie, wie ich mich gewundert habe, weil alle vier Schrauben von der Gedenktafel lose sind und heraus stehen. Aber keine Angst, da war noch nichts beschädigt. Auf jeden Fall habe ich die Schrauben wieder festgezogen. Es kommt immer wieder vor, dass Leute was in die Urnenschächte tun. Vielleicht bringt das Glück. Ist laut Friedhofsordnung nicht erlaubt. Aber mich geht das nichts an. Und stellen Sie sich vor, wie ich erst gestaunt habe, als am späten Abend wieder einen Mann vor dem Grab stand. Ich mache meine Runde, weil ich zu viel Zwiebelkuchen gegessen habe und mir besser draußen die Beine vertreten wollte. Die Toten stört das nicht weiter.«
Uhlig grinste.
»Nichts für ungut, da kann ich nichts dafür, das macht der Zwiebelkuchen. Wie ich da also gehe, sehe ich den Mann. Zuerst traue ich meinen Augen nicht, so eine schwarze Gestalt auf dem Friedhof um diese Zeit. Da kann einem schon schauerlich zumute werden. Dann sehe ich, wie er sich mit einem Bein gegen die Urnenmauer stemmt, dann kracht es. Da rufe ich, was machen Sie da. Der Mann dreht sich zu mir, kommt auf mich zu und ich sehe, dass es ein Pater ist, ein Riese von einem Mann, mit schlohweißer Mähne. Er steckt mir fünfzig Euro zu und sagt, dass ich verschwinden soll. Ich nehme das Geld und gehe meine Runde weiter. Aber es lässt mir keine Ruhe und ich kehre zurück. Aber da ist er schon weg!«
»Sie meinen, der Pater hat die Platte beschädigt?«
»Ich habe es nicht gesehen, aber wer soll es denn sonst gewesen sein? Er hat auf der einen Seite die Verschraubung herausgerissen und die Platte ein ganzes Stück nach oben gebogen. Das Ding ist aus massiver Bronze. Es gehören Riesenkräfte dazu.«
»Hören Sie«, unterbrach ihn Julia, »können Sie diese Platte in Ordnung bringen? Es läge mir so viel daran, dass sie an
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