Die Aufrichtigen (German Edition)
oben führt. Ob Jesus wirklich auf ihn herab sah, vom Himmelsthron, gerade in diesem Moment? Eine heilige Mission, ein großes Opfer! Doch wie viel größer war das Opfer, das der Erlöser gebracht hatte? Er durfte nicht zögern und vor allem durfte er nicht versagen.
Der junge Mann hatte geschworen, alles und auch das Letzte für seinen Schöpfer zu tun. Nur so konnte er die Schande seiner Familie ausmerzen, die sich vom Glauben abgewandt hatte. An ihm lag es, alle zu retten. So sehr er sich manchmal für das schämte, was der Pater mit ihm tat, so sehr wusste er, dass es ihn stark machte, stark wie ein Auserwählter sein muss. Es war doch Gottes Zärtlichkeit, die er genießen durfte. Außerdem war es seine Schuld! Hätte er den Professor am Montag in der Nacht nicht verloren, wäre es gar nicht so weit gekommen. Nur deshalb musste der Pater diese Entscheidung treffen, nur deshalb musste er das Werkzeug Christi sein. Es ging um die Ehre seines Namens, um sein Seelenheil. Er fasste sich an die Brust. In der Innentasche seiner Jacke war das lange Messer verborgen. Nur für alle Fälle, nur, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gab. Er sollte die Hände nehmen, nicht das Messer. Ein Messer richtet nur Verwüstung an. Hände sind geschmeidiger.
Maiorinus tastete sich durch das dunkle Wohnzimmer. Nach einer Ewigkeit bekam er endlich das Treppengeländer zu fassen. Er sollte ganz außen hinaufgehen, auf der linken Seite. Dort knarren die Stufen nicht. Und er sollte sich vor der Vorletzten hüten. Sie war verräterisch. Er würde jede zählen, es war die Dreiundzwanzigste. Aber was sorgte er sich? Der Herr war bei ihm. Der Herr liebte seine Diener, jeden, der durch seinen Glauben über sich hinaus wuchs.
Gegen diesen Glauben hatte der Professor gefrevelt, wie Pater Donatus immer wieder betonte. Ein Pakt sei besiegelt worden zwischen ihm, der einst als Bruder im Glauben galt, und der unsäglichen römischen Kirche. Wie viele seien von ihr schon versucht und ins Verderben gestürzt worden! Wie vielen sei ein Seelenheil versprochen worden, das diese Kirche längst verspielt hatte, um der weltlichen Macht, den fleischlichen Genüssen, der Wollust und der Sünde zu frönen. Das Gutachten war es ja nicht allein! Wie viele Gutachten wurden schon früher im Auftrag der römischen Kirche geschrieben, um irgend eine infame Lüge zu verbreiten. Pater Donatus duldete kein Mitleid mit Leuten, die sich an die römische Kirche verkauften. Was für einen jämmerlichen Mummenschanz würde man mit diesem Gutachten aufführen? Was war das denn für eine vermeintliche Renaissance der Kirche? Als ob die Menschen jemals ihre Religiosität verloren hätten! Die Sehnsucht nach Sinn, nach höherer Geborgenheit war in den Menschen angelegt, wie Essen und Schlafen, wie Begehren und Töten. Die römische Kirche hatte die unauslöschliche Hoffnung über die Jahrhunderte einfach nur für sich vereinnahmt, wie ein hinterlistiger Virus das kulturelle Gedächtnis infiziert, bis irgendwann alle mit den Worten der Kirche dachten. Die Kultur wird davon geprägt, woran wir uns erinnern. Also kommt es auf die Bilder an, die Rituale. Oder warum sonst hat jeder Tag seinen Heiligen? Auch wenn man nicht glaubt, denn was prägt uns mehr als das, woran wir uns reiben? Mit dem Gutachten des Professors sollte die Mär von der Berufung Konstantins des Großen durch Gott zum christlichen Kaiser wissenschaftlich untermauert werden. Zugegeben, der Zeitpunkt für das Auffinden der Fragmente des Ammianus Marcellinus war nicht schlecht gewählt. Alle Welt beschäftigte sich mit religiösen Fragen, der katholische Blickwinkel interessierte wieder. Der Katholizismus als Massenbewegung wurde spätestens mit dem mediengewaltig inszenierten Hinsiechen des verstorbenen Papstes wiederentdeckt. Damit nicht genug: die Diskussion über die bessere Kultur wurde im Kontext von Glauben, Religion und Weltanschauung geführt. Die Menschen verlangten nach der Leitkultur, nachdem Pluralismus, Offenheit und Toleranz so kläglich gescheitert zu sein schienen. Nun war wieder Raum für Demagogen und Seelenfänger, für den Trost der Mutter Kirche. Doch dass ausgerechnet Ammianus und Ernst Spohr die Tradition des Katholizismus als Erbe des römischen Reiches neu beleben sollten, war einfach zu infam! Bis heute konnte man sich dort nicht von der Weltreichidee freimachen. Zu gewaltig war das historische Vorbild, in dessen Fußstapfen sich die römische Kirche gedrängt hatte. Ein Gottesreich auf
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