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Die Aufrichtigen (German Edition)

Die Aufrichtigen (German Edition)

Titel: Die Aufrichtigen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonard Bergh
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einmal. Niemanden hat er gehabt, stell dir vor, gar niemanden. Manche Männer sind Krieger und verletzen sich, weil sie grausam sind. Manche aber fügen sich Schmerzen zu, weil sie sich nach dem einen warmen Busen sehnen, wo sie ihr geschundenes Haupt bergen können, nach der einen zarten Hand, die ihre Wunden pflegt. Wäre ich doch nur schon immer ein Engel gewesen.
    Erst als sie das Hämmern in ihrem Kopf spürte, wurde ihr klar, dass der Traum zu Ende war. Ob sich ihre Eltern nun getroffen hatten? Ob auch Mariechen bei ihnen war? Wie unschuldig und schön ist die Hoffnung, dass wir uns alle wiedersehen. Ist es Glück, das glauben zu können? Und ihr Vater? Konnte es denn wahr sein, was sie über ihn erfahren hatte? Was, wenn alles stimmte, wenn sich die ganze Welt über ihn getäuscht hätte? Viele Kritiker waren weder vom Glauben abgefallen, noch betrieben sie den Umsturz. Sie waren nur strenger, gläubiger und wetterten deshalb gegen die gotteslästerlichen Machenschaften der Amtskirche. Martin Luther, Ignatz von Döllinger – wollte ihr Vater nicht einmal über ihn schreiben? Sie dachte an das Fatschenkind, das Kruzifix mit dem eingearbeiteten Schlüssel: Hatte ihr Vater die Religion etwa gar nicht bekämpft? Weil sie schon ihre Mutter kaum kannte und man ihr die kleine Schwester verschwiegen hatte, musste sie wenigstens in Erfahrung bringen, wer ihr Vater wirklich war. Irgendwo musste es Unterlagen geben. Ob der Umschlag für Dr. Albertz etwas damit zu tun hatte? Anscheinend genoss dieser schmierige Herrenmensch das Vertrauen ihres Vaters, vielleicht mehr als sie selbst. Was hatte das alles mit dem Tod ihrer Schwester zu tun? Julias Kopf raste.
    Vielleicht lag es daran, dass man ihr nie gesagt hatte, wo sich das Grab ihrer Mutter befand, weshalb Julia einen Friedhof nur mit dieser unterschwelligen Angst betreten konnte. Das war beim Friedhof Herrgottsruh nicht anders. Er lag nur zehn Minuten vom Haus ihres Vaters entfernt, eigentlich nicht schwer zu finden, doch sie hatte ja keine Ahnung gehabt. Es schien, als herrsche hinter der Mauer eine allumfassende Ruhe, als läge er abgeschirmt in einer anderen Welt. Sogar der junge Frühling sah hier anders aus, roch anders, die Triebe sprossen vorsichtiger und selbst die Vögel sangen mit gedämpfter Stimme. Was würde geschehen, wenn sie plötzlich auf irgend einem Grabstein den Namen ihrer Mutter entdeckte, ausgerechnet hier? Was sollte sie mit ihrem Vater tun, wenn ihn die Gerichtsmedizin, mit Zellstoff ausgestopft, erst wieder freigegeben hätte? Hier war die Welt der Toten, die jeden zu sich herüber ziehen, der sich in ihre Gefilde wagt. Wer konnte schon sagen, ob die Toten nichts fühlen, wenn man sie in die enge Kiste zwängt und die Glut der Flammen sie verzehrt?
    Gleich neben dem Eingang stand ein barockes, mit Efeu eingewachsenes Pfarrhaus. Rosenbüsche zierten es, die erste frische Blätter verschenkten. Wenn Julia je wieder wagen würde, hierher zurückzukehren, wollte sie in der Kirche eine Kerze opfern. Für sie gehörte es zum Heidentum, Respekt vor allem zu haben, was anderen Menschen heilig war. In ihrem Überfluss an Poesie hatten die Menschen so viele Sinnbilder für Gott hervorgebracht, wie sollte sie das nicht bewundern? Diese Ehrfurcht versuchte sie an ihre Kinder weiter zu geben, und hoffte, ihnen so das Zutrauen in die Welt und die Liebe zu vermitteln, nach der ein jeder Mensch sich sehnt. Im Gegensatz dazu hatte der Monotheismus nur die Sprache der Gewalt gelehrt. Bevor es den einen Gott gab, verbanden die unzähligen Götter die Menschen, trotz aller Zwistigkeiten und all der endlosen Kriege. Man kämpfte um Land, um Ehre, aus Rache oder Verlangen. Für Gott zogen die Menschen erst in den Kampf, als der Wettstreit über den Besitz der Wahrheit entbrannte. Der eine Gott, den jeder für sich allein beansprucht, trennte die Menschen seither. Die Religion verkam zum Zynismus der Herrschenden, Gott war zum Instrument der Unterdrückung geworden. So ein Gott würde den Menschen niemals Frieden bringen!
    Hinter der Aussegnungshalle entdeckte Julia mehrere durch Kieswege getrennte Mauerreihen. Es waren die Urnenwände. Auf einer jeden stand ein großer Buchstabe. Die Gedenktafeln zogen sich in drei übereinander liegenden Reihen über die Mauern hin. Neben jeder Tafel stand eine Nummer. Julia machte sich daran, die Wände abzugehen. Sie hörte nichts als das Knirschen ihrer Schritte im Kies. Ist das die Ruhe des Todes? Dann muss der Tod herrlich

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