Die Aufsteigerin
Hodges erfasste Besorgnis, obwohl er andererseits durchaus den Anblick genoss, der sich ihm bot.
Aber vielleicht war er diesmal zu weit gegangen …
Fesselungen waren Ende des 19. Jahrhunderts in Irrenanstalten eingeführt worden. Zumindest offiziell, denn gegeben hatte es sie schon seit ewigen Zeiten. Geisteskranke hatte man nach
Gutdünken behandeln dürfen, ebenso wie Strafgefangene. In Heimen und Erziehungsanstalten wurden die Fesselungen oft als letzter Ausweg angesehen, in der Benton School for Girls hingegen brachte man sie vor so gut wie allen anderen Sanktionen zur Anwendung. In erster Linie waren sie für Epileptiker gedacht, damit diese nicht aus dem Bett fielen und sich verletzten. Sie galten als Hilfsmaßnahme für die Unglückseligen, die des Nachts einen Anfall bekamen - so hieß es jedenfalls offiziell. Zudem wurden Anstaltsinsassen gefesselt, bei denen Fluchtgefahr bestand, wenn man sie unbewacht ließ.
In Cathys Fall diente diese Maßnahme der Bestrafung.
Sie war so gefesselt, dass sie sich nicht bewegen konnte und dass ihr die größtmöglichen Schmerzen zugefügt wurden.
Die Schlingen um ihren Hals, um die Hände und schließlich noch die Füße waren so gelegt, dass sie sich unweigerlich strangulierte, wenn sie sich mit Gewalt aus den Fesseln zu winden versuchte. Wenn er Jungen fesselte, zwang Hodges seine Opfer, sich auf den Bauch zu legen. Auf diese Weise konnte er sie leichter nehmen, wenn ihm danach war. Er kannte sich mit sämtlichen Arten der Fesselung aus und hatte sie im Laufe der Jahre alle ausprobiert. So hielt er sich denn auch für einen Experten auf diesem Feld und liebte es, mit Gleichgesinnten endlose Diskussionen zu diesem Thema zu führen. Wenn er dabei seine Handlungen nachempfand, überkamen ihn gewöhnlich die hitzigsten Gelüste.
Als er jetzt jedoch auf das leidende Opfer hinuntersah, in ihre glasigen und schreckgeweiteten Augen, auf ihre geschwollenen Glieder, meldete sich doch die Angst. Man hatte noch nicht einmal die formelle Einweisung dieses Mädchens erwirkt. Die Kleine durfte also gar nicht bei ihnen in der Anstalt sein.
Als er die Stricke zerschnitt, die sich tief in ihr Fleisch gegraben hatten, vernahm er die hektischen und angstvollen Atemzüge seiner Kollegin.
»Sie hat es gebraucht. Das hast du selbst zugegeben.«
Miss Henley traute sich nicht, ihm zu antworten.
»Ein völlig missratenes Kind ist sie, und das hier wird ihr eine Lehre sein. Denk an meine Worte.«
Sie beide wussten, dass er Augenwischerei betrieb.
Während sie die Handgelenke des Mädchens massierten, beteten sie, dass die Kleine ihnen nicht unter den Händen sterben würde. Die Konsequenzen von zwei Todesfällen innerhalb von achtzehn Monaten wären nicht auszudenken. In grimmigem Schweigen kümmerten sie sich um das Mädchen. Sie wussten sehr genau, dass sie diesmal mit ihrer Strafaktion zu weit gegangen waren, aber keiner von beiden brachte den Mut auf, diese Einsicht laut auszusprechen.
Beide hegten ihre Geheimnisse, beide wussten um die Eigenheiten des anderen, und beide fürchteten sich schrecklich vor den möglichen Konsequenzen einer Entlarvung. Es war eine unheilige Allianz, die sie verband, und sie würden einander niemals verraten.
Die Mädchen widmeten sich still ihren Aufgaben, und Mrs. Daggers wusste auch, warum. Kaum fünf Minuten im Haus, und schon hatte dieses kleine Miststück Connor alles durcheinandergebracht.
Mrs. Daggers hatte ebenso in Frauengefängnissen wie in Haftanstalten für Männer gearbeitet, und sie verstand sich darauf, Anzeichen zu deuten. Weil sie daher ahnte, dass es schon sehr bald zur Meuterei kommen konnte, versorgte sie die Mädchen mit Arbeit, verließ das Klassenzimmer und brachte sich in Sicherheit.
Sie stieg hinauf unters Dach und warf einen Blick in die Kammer, in die man die Ursache aller Probleme einquartiert hatte: Cathy Connor.
»Wie geht’s ihr denn?«, fragte Mrs. Daggers mit gesenkter Stimme.
Miss Henley zuckte hilflos die Achseln. »Okay, glaube ich.«
Mr. Hodges hörte nicht auf, Cathys Knöchel zu reiben. In der engen Kammer klangen seine Atemzüge beinahe röchelnd.
»Wie lange war sie bewusstlos?«
Mit gepresster Stimme antwortete Miss Henley: »Keine Ahnung.«
Jetzt war sogar Mrs. Daggers schockiert. »Wollen Sie damit sagen, dass niemand sie beaufsichtigt hat? Sie hätte sterben können, Sie törichte Frau.«
Mr. Hodges fuhr herum: »Ist sie aber nicht. Und wenn Sie nichts Konstruktives zu dem Gespräch
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