Die Augen des Drachen - Roman
als in der vorigen Woche, hatte den Vorsitz. Thomas antwortete immer an der richtigen Stelle mit Das werde ich! Das will ich! Das schwöre ich!, wie Flagg es ihm beigebracht hatte. Am Ende der Zeremonie, die in so feierlichem Schweigen stattfand, dass selbst die Leute am äußersten Ende des Platzes alles deutlich hören konnten, wurde Thomas die Krone aufs Haupt gesetzt. Wieder wurde Jubel laut, ungestümer noch als vorher, und Thomas hob den Kopf und sah an der glatten Rundung der Steinmauer der Nadel empor, bis ganz hinauf zur Spitze, wo sich nur ein einziges Fenster befand. Er konnte nicht sehen, ob Peter heruntersah, aber er hoffte es. Er hoffte, dass Peter heruntersah und sich zornig auf die Lippen biss, bis Blut an seinem Kinn herablief, so wie Thomas sich selbst oft auf die Lippen gebissen hatte - bis er ein feines Netz von Narben um den Mund herum hatte.
Hörst du das, Peter?, rief er gellend in Gedanken. Sie jubeln MIR zu! Sie jubeln MIR zu! Endlich jubeln sie MIR zu!
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In seiner ersten Nacht als König schrak Thomas der Lichtbringer mit weit aufgerissenen Augen aus dem Schlaf, sein Gesicht starr vor Entsetzen, die Hände vor den Mund gepresst, als wollte er einen Schrei unterdrücken. Er hatte gerade einen schrecklichen Albtraum gehabt, noch schlimmer als den, in dem er das schreckliche Erlebnis im Ostturm noch einmal durchlebt hatte.
Auch in diesem Traum hatte er gewissermaßen etwas noch einmal durchlebt. Er war wieder in dem Geheimgang und spionierte seinem Vater nach. Es war die Nacht, in der sein Vater so betrunken und wütend gewesen war, als er durch das Zimmer stapfte und trotzig die Köpfe an den Wänden anbrüllte. Aber als sein Vater vor dem Kopf von Neuner stand, waren die Worte, die er sagte, andere.
Warum starrst du mich so an?, schrie sein Vater in dem Traum. Er hat mich umgebracht, und vermutlich konntest du daran nichts ändern, aber wie kannst du mit ansehen, dass dein Bruder dafür eingesperrt wurde? Antworte mir, verflucht! Ich habe mein Bestes getan, und schau mich jetzt an! Schau mich an!
Sein Vater begann zu brennen. Sein Gesicht nahm das dunkle Rot eines mit Asche bestreuten Feuers an. Rauch kam aus dem Mund, den Nasenlöchern und den Augen. Er krümmte sich unter qualvollen Schmerzen, und da
sah Thomas, dass seines Vaters Haar in Flammen stand. In diesem Augenblick erwachte er.
Der Wein!, dachte er nun voller Entsetzen. Flagg hat ihm in jener Nacht ein Glas Wein gebracht! Jeder wusste, dass Peter ihm jeden Abend ein Glas Wein brachte, und daher vermutete jeder, dass Peter den Wein vergiftet hatte! Aber auch Flagg hat ihm an diesem Abend Wein gebracht, und er hat das sonst niemals getan! Und das Gift stammte von Flagg! Er behauptete, es wäre ihm vor Jahren gestohlen worden, aber …
Er durfte nicht an solche Sachen denken. Er durfte es nicht. Denn wenn er darüber nachdachte …
»Er würde mich umbringen«, flüsterte Thomas entsetzt.
Du könntest zu Peyna gehen. Peyna kann ihn nicht leiden.
Ja, das könnte er tun. Aber dann flackerten seine Abneigung und seine Eifersucht auf Peter wieder auf. Wenn er es sagte, dann würde man Peter aus seiner Zelle in der Nadel herauslassen, und er würde an seiner Stelle König werden. Thomas wäre wieder ein Niemand, lediglich ein unbeholfener Prinz, der für einen Tag König gewesen war.
Thomas hatte nur einen Tag gebraucht, um festzustellen, dass es ihm Spaß machen könnte, König zu sein - es könnte ihm sogar großen Spaß machen, besonders dann, wenn Flagg ihm half. Außerdem wusste er ja schließlich gar nichts, oder? Er hatte nur eine Ahnung. Und seine Ahnungen waren bisher immer falsch gewesen.
Er hat mich umgebracht, und vermutlich konntest du daran nichts ändern, aber wie konntest du mit ansehen, dass dein Bruder dafür eingesperrt wurde?
Vergiss es, dachte Thomas, es kann nicht stimmen, es kann nicht stimmen, und selbst wenn, dann geschieht es ihm recht. Er drehte sich auf die Seite und beschloss, wieder einzuschlafen. Und nach langer Zeit schlief er auch wieder ein.
In den folgenden Jahren suchte dieser Albtraum ihn noch ab und zu heim - der Vater klagte den spionierenden Sohn an und brach dann rauchend, mit brennenden Haaren, zusammen. In diesen Jahren fand Thomas zweierlei heraus: Schuld und Geheimnisse kommen, wie die Gebeine Ermordeter, niemals zur Ruhe. Aber mit dem Wissen um alle drei kann man leben.
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Wenn man ihn gefragt hätte, dann hätte Flagg gesagt, dass Thomas vor niemandem ein Geheimnis wahren
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