Die Augen des Drachen - Roman
konnte, es sei denn vor einer Person, die schwachsinnig war, und vielleicht nicht einmal vor einer solchen; und dabei hätte er verächtlich gelächelt. Und ganz sicher konnte er, hätte Flagg gesagt, ein Geheimnis nicht vor dem Mann bewahren, der seine Krönung eingefädelt hatte. Aber Männer wie Flagg sind voller Stolz und Vertrauen auf sich selbst, und wenngleich sie vieles sehen mögen, sind sie manchmal auf seltsame Weise blind. Flagg kam niemals auf die Idee, dass Thomas in jener Nacht hinter Neuner gewesen sein könnte, dass er gesehen hatte, wie Flagg Roland das Glas mit dem vergifteten Wein reichte.
Das war das Geheimnis, das Thomas für sich behielt.
51
Hoch über dem Fest der Krönung, in der Spitze der Nadel, stand Peter an einem kleinen Fenster und sah hinab. Wie Thomas gehofft hatte, hatte er alles gesehen und gehört, angefangen von den ersten Jubelrufen, als Thomas an Flaggs Arm herausgekommen war, bis zum letzten, als er, wiederum an Flaggs Arm, in den Palast zurückkehrte.
Fast drei Stunden nach der Feier stand er immer noch am Fenster und beobachtete die Menge. Die Leute schienen nicht willens zu sein, sich zu zerstreuen und heimzugehen. Es gab so viel zu bereden und so viele Erinnerungen festzuhalten. Der eine musste dem anderen unbedingt erzählen, wo genau er gewesen war, als er die Nachricht vom Tod des alten Königs gehört hatte, und dann mussten sie beide es wiederum einem Dritten berichten. Die Frauen weinten ein letztes Mal über Roland und schnatterten dann, wie prächtig Thomas ausgesehen habe und wie ruhig er zu sein schien. Die Kinder spielten Fangen und taten so, als wären sie Könige, sie trieben Reifen vor sich her und fielen hin und schürften sich die Knie auf und weinten und standen wieder auf und lachten und jagten einander weiter. Die Männer klopften einander auf die Schultern und sagten zueinander, dass nun alles gut werden würde - es war eine schreckliche Woche gewesen, aber nun würde alles gut werden. Doch über allem lag ein dumpfes gelbliches Unbehagen, als spürten sie, dass
eben nicht alles gut war, dass die Dinge, die seit der Ermordung des alten Königs so schrecklich schiefgegangen waren, noch nicht aus der Welt geschafft waren.
Das alles bekam Peter freilich in seinem hohen, einsamen Gefängnis in der Nadel nicht mit, aber er spürte etwas. Ja, etwas.
Um drei Uhr, drei Stunden früher als sonst, öffneten die Schänken, vorgeblich zur Feier der Krönung des neuen Königs, hauptsächlich aber, weil man sich ein gutes Geschäft erwartete. Die Leute wollten trinken und feiern. Um sieben Uhr an diesem Abend zog der größte Teil der Stadtbevölkerung grölend durch die Straßen und trank auf das Wohl von Thomas dem Lichtbringer (oder prügelte sich miteinander). Es war schon beinahe dunkel, als die Feiernden sich endlich zerstreuten.
Peter ging vom Fenster weg zu dem einzigen Stuhl in seinem »Wohnzimmer« (dieser Name war ein grausamer Scherz) und setzte sich dort mit im Schoß gefalteten Händen hin. Er saß da und sah zu, wie es in dem Zimmer dunkler wurde. Sein Essen kam - fettiges Fleisch, verwässertes Bier und ein grobes Brot, das so salzig war, dass es seinen Mund wund gemacht hätte, hätte er davon gegessen. Aber Peter aß weder Fleisch noch Brot, und auch das Bier trank er nicht.
Gegen neun Uhr begann der Lärm auf den Straßen erneut (diesmal war die Menge wesentlich dreister … fast aufwieglerisch), und Peter ging ins zweite Zimmer seines Gefängnisses, zog sich bis auf das Hemd aus, wusch sich mit Wasser aus der Schüssel und kniete nieder und betete. Dann ging er zu Bett. Es gab nur eine einzige Decke, wenngleich es in dem Zimmer sehr kalt war. Peter
zog sie sich bis zur Brust, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah in die Dunkelheit empor.
Von draußen vernahm er Schreie, Gejohle und Gelächter von unten. Ab und zu hörte er das Krachen von Feuerwerkskörpern, und einmal, vor Mitternacht, ertönte eine Gewehrsalve, als ein betrunkener Soldat mit Platzpatronen Salut feuerte (am nächsten Tag wurde der unglückselige Soldat wegen des trunkenen Saluts für seinen neuen König in den fernen Osten des Königreichs versetzt - Schießpulver war selten in Delain und wurde eifersüchtig gehütet).
Erst nach ein Uhr morgens schloss Peter endlich die Augen und schlief ein.
Am nächsten Morgen stand er um sieben auf. Er kniete zitternd in der Kälte nieder - sein Atem bildete weiße Wölkchen vor dem Mund, die bloßen Arme und Beine waren mit
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