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Die Augen des Drachen - Roman

Die Augen des Drachen - Roman

Titel: Die Augen des Drachen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Gänsehaut überzogen - und betete. Nachdem er sein Gebet gesprochen hatte, zog er sich an. Er ging ins »Wohnzimmer« und stand schweigend fast zwei Stunden am Fenster und verfolgte, wie die Stadt unter ihm zum Leben erwachte. Dieses Erwachen vollzog sich langsamer und schleppender als sonst; die meisten Erwachsenen in Delain erwachten mit Brummschädeln vom Trinken. Sie stolperten langsam und übellaunig zu ihrer Arbeit. Viele der Männer gingen unter dem Schimpfen ihrer wütenden Frauen zur Arbeit, die keinerlei Verständnis für ihre Kopfschmerzen hatten (auch Thomas hatte Kopfschmerzen, er hatte am vorherigen Abend zu viel Wein getrunken, aber wenigstens blieb ihm die keifende Ehefrau erspart).
    Peters Frühstück kam. Beson, sein Oberwärter (der ebenfalls einen Kater hatte), brachte ihm Weizenflocken
ohne Zucker, verwässerte Milch, die fast schon sauer war, und wieder das grobe, salzige Brot. Es war ein arger Kontrast zu den angenehmen Frühstücken in Peters Arbeitszimmer, und Peter aß nichts davon.
    Um elf Uhr holte einer der untergebenen Wachmänner das unberührte Essen schweigend ab.
    »Ich glaube, der junge Prinz möchte verhungern«, sagte er zu Beson.
    »Gut«, antwortete Beson gleichgültig. »Erspart uns die Mühe, uns um ihn zu kümmern.«
    »Vielleicht hat er Angst, vergiftet zu werden«, dröhnte der Unterwachmann, und trotz seines schmerzenden Schädels musste Beson lachen. Der Witz war wirklich gut.
    Peter verbrachte den größten Teil des Tages auf dem Stuhl im »Wohnzimmer«. Später am Nachmittag stand er wieder am Fenster. Das Fenster war nicht vergittert. Wenn man kein Vogel war, gab es keinen anderen Weg als abwärts. Niemand, weder Peyna noch Flagg noch Aron Beson, machte sich Gedanken, dass ein Gefangener irgendwie hinabklettern könnte. Die Steinmauer der Nadel war vollkommen glatt. Eine Fliege hätte es vielleicht schaffen können. Aber nie ein Mensch.
    Und wenn er deprimiert genug war und hinuntersprang, wer würde es bedauern? Niemand. Es würde dem Staat die Kosten und Mühen ersparen, einen blaublütigen Mörder durchzufüttern.
    Als das Sonnenlicht über den Boden und die Wand hinaufzukriechen begann, saß Peter auf dem Stuhl und sah zu. Sein Essen - fettes Fleisch, wässriges Bier und salziges Brot - wurde gebracht. Peter rührte es nicht an.
    Als die Sonne untergegangen war, saß er bis neun Uhr
im Dunkeln, dann ging er ins Schlafzimmer. Er entkleidete sich bis auf das Hemd, kniete nieder und betete, wobei kleine weiße Wölkchen aus seinem Mund kamen. Er legte sich ins Bett, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte in die Dunkelheit hinauf. Er lag da und dachte darüber nach, was aus ihm geworden war. Gegen ein Uhr morgens schlief er ein.
    So war es auch am zweiten Tag.
    Und am dritten.
    Und am vierten.
    Eine ganze Woche lang aß Peter nichts, sagte nichts und tat nichts anderes, als am Wohnzimmerfenster zu stehen oder auf dem Stuhl zu sitzen, wo er zusah, wie das Sonnenlicht vom Fußboden über die Wand zur Decke kroch. Beson war überzeugt davon, dass sich der Junge in völlig schwarzer Verzweiflung und Reue befand - so etwas hatte er schon erlebt, besonders unter Menschen von königlichem Geblüt. Der Junge würde sterben, dachte er, wie ein wilder Vogel, der nie in einen Käfig gesperrt werden sollte. Der Junge würde sterben, und damit wären sie ihr Problem los.
    Aber am achten Tag ließ Peter nach Aron Beson schicken und gab ihm bestimmte Anweisungen … und er gab sie nicht wie ein Gefangener.
    Er gab sie wie ein König.

52
    Peter war verzweifelt … aber nicht so tief, wie Beson vermutete. Er hatte die erste Woche in der Nadel damit verbracht, sorgfältig über seine Situation nachzudenken und zu entscheiden, was er tun sollte. Er hatte gefastet, um sein Denken zu klären. Es klärte sich schließlich, aber eine Zeit lang fühlte er sich schrecklich verloren, und die Last der Situation drückte wie der Amboss eines Schmieds auf ihn herab. Dann erinnerte er sich an die schlichte Wahrheit: Er wusste, dass er seinen Vater nicht getötet hatte, auch wenn jeder andere im Königreich ihn für einen Mörder hielt.
    In den beiden ersten Tagen musste er sich mit sinnlosen Gefühlen herumplagen. Der kindliche Teil in ihm schrie immer wieder: Nicht fair! Das ist nicht fair! Und das war es natürlich auch nicht, aber dieses Denken führte zu nichts. Während er fastete, erlangte er allmählich wieder die Herrschaft über sich. Sein leerer Magen schälte den kindlichen

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