Die Augen
unseren Ermittlungen eine Hilfe und kein Hindernis.«
»Warum sollte sie ein Hindernis sein?«
»Starke Gefühle vernebeln einem oft den Verstand und beeinträchtigen das Urteilsvermögen, um nur zwei Punkte zu nennen. Bei einem Empathen ist es natürlich noch schlimmer. Vielleicht hat sie gelernt, damit umzugehen, vielleicht auch nicht. Falls nicht, treiben die ganzen Schmerzen, die sie spürt – ihre eigenen plus die der anderen – sie womöglich dazu, etwas zu tun, was sie normalerweise nicht tut.«
»Was zum Beispiel?«
»Sie könnte leichtsinnig handeln oder unbedacht Informationen weitergeben. Sich auf einen bestimmten Ermittlungsstrang versteifen, zuungunsten aller übrigen, oder im Gegenteil zunehmend Schwierigkeiten haben, sich Dinge auch nur von einem auf den anderen Tag zu merken. Sie könnte auf die Menschen in ihrer Umgebung losgehen.«
Quentin murmelte: »Also auf uns.«
Kendra nickte, fügte jedoch hinzu: »Sie könnte sich auch getrieben fühlen, die Situation so schnell wie möglich zu klären, egal, welchen Preis sie dafür zahlen muss.«
»Sie haben gesagt, ihr Selbsterhaltungstrieb würde sie schützen«, wandte John ein.
»Letzten Endes schon. Aber nach allem, was wir über sie herausfinden konnten, macht Maggie das jetzt seit einigen Jahren, und das heißt, sie muss stark motiviert sein, um das durchzustehen. Aber das hier sind vermutlich die schlimmsten Ermittlungen, an denen sie je beteiligt war, gemessen an der Tiefe und dem Spektrum des Leidens der Frauen. Es ist für jede Frau schlimm genug, sich eine Vergewaltigung auch nur vorstellen zu müssen. Das körperliche und emotionale Trauma auch nur aus zweiter Hand zu empfinden muss die reine Hölle sein. Wenn der Schmerz stark genug ist, tut man beinahe alles, damit er nur endlich aufhört.«
»Sie könnte einfach weggehen.«
»Könnte sie das?« Kendra blickte auf, ihre Finger hielten einen Moment inne. Doch schon nahmen sie ihre Arbeit wieder auf, und Kendra sprach ruhig weiter: »Ganz gleich, ob Sie glauben, dass sie eine Empathin ist oder nicht, John, Sie können nicht leugnen, dass jemand, der sich absichtlich regelmäßig den schlimmsten Schmerzen und Traumata, die andere Menschen erlebt haben, aussetzt, ein unglaubliches Maß an Entschlossenheit und Hingabe an den Tag legt. Irgendetwas tief in ihr drin treibt sie dazu, und was es auch sein mag, es wird ihr nicht gestatten, einfach so wegzugehen.«
»Also wird sie durchhalten, so lange sie es irgend ertragen kann«, sagte Quentin. »Wird sich ganz bewusst Schmerzen und Gefühlen öffnen, die niemand von uns aus freien Stücken empfinden würde – wenn wir die Wahl hätten. Der Kampf gegen sich selbst und ihre Instinkte wird härter sein als jeder Kampf gegen jemand oder etwas anderes.«
»Mit anderen Worten, sie ist eine geladene Kanone«, meinte John.
»Eher Nitroglyzerin in einem Pappbecher.«
John seufzte. »Aber kann sie uns helfen?«
Quentin nickte. »Doch, sicher, damit hattest du Recht. Sie kann uns helfen. Sie kann sich vielleicht sogar selbst helfen, wenn diese Sache erst vorbei ist. Aber bis dahin wird es wahrscheinlich … für alle Beteiligten ziemlich schmerzhaft.«
»Ich habe vor ein paar Monaten meine Schwester begraben«, sagte John mit fester Stimme. »Schmerzhafter als das?«
Quentin zögerte. Er wechselte einen raschen Blick mit Kendra und sagte: »Könnte sein, John. Ich weiß, das ist für dich schwer zu glauben, aber Tatsache ist, wenn neuer Schmerz auf alten Schmerz folgt, dann wiegt das im Ergebnis normalerweise deutlich schwerer als jede Verletzung für sich allein genommen.«
Die Augen wieder auf die Akte der Spurensicherung gerichtet, sagte Kendra: »Vier Opfer bisher, und der Vergewaltiger hat uns praktisch keine stichhaltigen Beweise hinterlassen. Kein auch noch so schwacher Anhaltspunkt, auf den wir unsere Aufmerksamkeit richten könnten. Das bedeutet, wir müssen unsere Ermittlungen auf die beteiligten Personen konzentrieren. Die Opfer, ihren Hintergrund, Freunde und Angehörige. Leidende Menschen, überall um uns herum. Verängstigte, wütende, trauernde, verletzte Menschen.«
John sah mit gerunzelter Stirn von einem zur anderen. »Versucht ihr zwei, mich zu überreden, dass wir Maggie außen vor lassen?«
»Unmögliches versuchen wir gar nicht erst«, erwiderte Quentin.
»Fast nie«, berichtigte Kendra.
Darüber dachte Quentin nach, dann zuckte er mit den Achseln und sagte zu John: »Jedenfalls versuchen wir nur, dich vorzuwarnen,
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