Die Augen
und mit ihrem Leben fortzufahren?«
Hollis wollte eigentlich nicht darauf antworten, hörte sich dann aber sagen: »In mancher Hinsicht, sicher. Wenn ich wieder sehen kann, hat er nicht … alles zerstört. Ich hätte immer noch meine Kunst und immer noch so wie vorher, das wäre sicher hilfreich. Es würde mir etwas geben, auf das ich mich konzentrieren könnte.«
»Aber Ihre Kunst wird sich auf jeden Fall verändern«, sagte Maggie. »Niemandem widerfährt Gewalt, ohne dass er aus dieser Erfahrung fundamental verändert hervorgeht.«
»Sie meinen die Träume?« Hollis stieß die Frage geradezu hervor.
Maggie hielt ihre Stimme leise, unbeschwert, als sprächen sie über nichts Ungewöhnliches. »Ihre Träume sind heftiger und lebhafter geworden, Sie haben oft Albträume. Sie wachen oft mitten in der Nacht auf, plötzlich, sogar ohne Albtraum. Die meisten Ihrer Sinne sind schärfer geworden, und Sie reagieren schneller auf Reize. Und es wird lange dauern – wenn es denn je gelingt –, ehe Sie sich wieder sicher fühlen.«
»Sie sind schonungsloser als die Psychotante.«
»Ich wüsste nicht, warum ich um den heißen Brei herumreden sollte. Sie sind eine intelligente Frau, und Sie hatten in den letzten Wochen viel Zeit, darüber nachzudenken. Sich zu befragen. Sich zu fragen, was jetzt anders ist, was anders sein wird. Ihre Kunst auf jeden Fall. Ich muss nicht wissen, was Sie gezeichnet oder gemalt haben, um mir dessen sicher zu sein.«
»Ja, ich weiß.« Hollis umklammerte die Stuhllehnen, ihre Finger verkrampften und lösten sich unablässig. »Aber in welcher Weise anders?«
»Das lässt sich nicht sagen, das müssen Sie selbst herausfinden. Ich schätze, wenn Sie malen, werden Sie eine Tendenz zu schlichteren Bildern und kräftigeren Farben bemerken. Sie werden Sujets wählen, denen Sie früher aus dem Weg gegangen sind, oder vielleicht werden sie auch auf ein, zwei Bilder fixiert sein, auf Kosten aller anderen.«
»Wie das Skalpell, mit dem er mir die Augen genommen hat?«
»Mag sein. Oder irgendein anderes Bild, das für Sie Gewalt oder Ihren Verlust ausdrückt. Vielleicht hat es auch überhaupt keine Verbindung zu dem, was Ihnen zugestoßen ist – dem äußeren Anschein nach jedenfalls. Aber es wird einen Zusammenhang geben. Und Sie werden wissen, welchen, oder Sie müssen es herausfinden. Die Bilder werden Sie nicht in Ruhe lassen, bis Sie sich mit Ihnen befasst haben.« Maggies Stimme blieb sachlich, war jedoch nicht ohne Mitgefühl oder Verständnis.
Hollis tat einen zittrigen Atemzug. »Mein Denken war auch vor dieser Sache schon von Bildern in Anspruch genommen. Aber wie soll es Bilder, sichtbare Bilder, hiervon geben? Was mir zugestoßen ist, war ausschließlich … Dunkelheit. Ich habe überhaupt nichts gesehen.«
»Ihre übrigen Sinne werden die Leerstellen ausfüllen. Was Sie gehört und gefühlt, was Sie gerochen haben, was Sie berührt haben und was Sie berührt hat.«
»Das Böse hat mich berührt. Wie soll ich das malen?«
»Ich weiß es nicht. Aber Sie werden es wissen. Irgendwann werden Sie es wissen. Sie werden wissen, wie Sie es entweder malen oder ihm sonst Gestalt geben können. So etwas tun Künstler.«
»Tun Sie so was? Dem Bösen Gestalt geben?«
»Ich … nehme es an. Oder zumindest ein Gesicht.« Hollis lachte leise. »Wissen Sie, was daran besonders ironisch ist? Ich bin hierher gekommen, weil ich ganz von vorne anfangen wollte. Ich hatte genug Geld geerbt, um meinen stupiden Job im kommerziellen Kunstgewerbe endlich aufzugeben und ein paar Jahre lang herauszufinden, ob ich wirklich genug Talent habe, um eine richtige Künstlerin zu sein. Und dann hatte ich gerade erst mein Atelier eingerichtet, als das passierte. Das Schicksal tritt uns gern in den Arsch.«
»Ja, ist mir schon aufgefallen.« Maggie hielt inne, dann fuhr sie fort: »Ich nehme an, es hat keinen Sinn, wenn ich Sie frage, ob Sie sich daran erinnern, dass Sie vor dem Überfall jemand beobachtet hat. Ihnen gefolgt ist.«
»Ich erinnere mich an nichts Ungewöhnliches. Falls er mich also beobachtet hat, habe ich ihn nicht gesehen. Und das ist eine ganz, ganz fiese Vorstellung. Warum hat er – wissen Sie, warum er mich ausgewählt hat?«
»Die Polizei hat bisher keinen brauchbaren gemeinsamen Nenner bei allen Opfern gefunden. Unterschiedliche äußere Erscheinungen, verschiedene Berufe und Lebensweisen, ein relativ breites Altersspektrum – er scheint allerdings zu Frauen zwischen zwanzig und dreißig zu
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