Die Auserwählte: Roman (German Edition)
konnte ich spüren, dass das Unwetter Gestalt annahm, dass sich seine Kräfte verdichteten. Ich hatte das Gefühl, dass ich mir Sorgen hätte machen sollen … machte mir jedoch keine.
Wenn es Gottes Wille ist, dass Los Angeles von einem Unwetter heimgesucht wird, dann soll es eben so sein.
Ich lehnte mich gegen das Balkongeländer und blickte zum Strand hinunter. Jetzt wusste ich auch, wo ich mich befand: in einem der luxuriösen Strandhäuser in Santa Monica, die entlang des Pacific Coast Highway standen. Ich spähte über das Geländer nach unten, zählte drei Etagen unter mir und pfiff durch die Zähne. Ein viergeschossiges Strandhaus – das war eine hochpreisige Immobilie, die vermutlich Millionen wert war. Andererseits waren die Immobilienpreise seit dem Erdbeben gefallen, und wahrscheinlich waren Strandhäuser ebenfalls erschwinglicher geworden, nachdem jetzt die Zeltstadt zwischen ihnen und dem Meer stand.
Im verschwommenen Morgenlicht huschten Gestalten zwischen den Zelten am Strand hin und her, kümmerten sich um Feuerstellen und bereiteten in Bratpfannen über heißen Kohlen Frühstück zu. Im Süden sah ich den von Nebel verschleierten Santa-Monica-Pier. Und ich sah das Weiße Zelt, in dem Prophets Erweckung stattgefunden hatte. Wann war das gewesen? Gestern Abend? Es schien eine Ewigkeit her zu sein. Nach einer ganzen Nacht Schlaf veränderte sich die Zeit. Ich hatte das Gefühl, etwas Wichtiges verpasst zu haben, eine entscheidende Filmszene verschlafen zu haben. Doch das war nicht weiter schlimm. Prophets Segen hatte mich ins Lot gebracht, hatte einen neuen Menschen aus mir gemacht.
Im Badezimmer warteten eine Zahnbürste in ungeöffneter Verpackung und eine frische Tube Zahnpasta auf mich, außerdem Shampoo und Haarspülung sowie ein Stapel flauschiger weißer Handtücher.
Ich putzte mir die Zähne, dann zog ich meine Bekleidung aus, um kurz zu duschen. Ich drehte das kalte Wasser auf und ließ es laufen, bis es eiskalt wurde, während ich mich im Spiegel betrachtete. In dem weißen Badezimmer wirkten meine Blitzschlag-Narben röter als je zuvor, rot wie Blut, doch das war in Ordnung. Prophet hatte schließlich auch welche, wenngleich nicht so viele. Es gefiel ihm nicht, dass ich öfter vom Blitz getroffen worden war als er. Mir gefiel nicht, dass ich ihn eifersüchtig gemacht hatte. Wenn es eine Gabe Gottes war, vom Blitz getroffen zu werden, bedeutete das, dass Gott mich Prophet bevorzugt hatte. Und das ergab keinen Sinn.
Denk nicht darüber nach.
Eine Viertelstunde später war ich geduscht und wieder in Jünger-Weiß gekleidet. Ich wünschte, ich hätte noch etwas anderes zum Anziehen gehabt. An meinen Ärmeln befanden sich die dunklen, schmutzigen Fingerabdrücke des Mannes, der mich am Strand festgehalten und mir gesagt hatte … Was hatte er mir gesagt? Irgendetwas über Liebe?
Denk nicht darüber nach.
Ja, es war besser so. Gedanken konnten gefährlich sein, wenn man die falschen hatte, und ich hatte mein ganzes Leben die falschen gehabt. Doch Prophet half mir dabei, die richtigen Gedanken zu haben. Prophet war wie Mr Kale, nur in jeder Hinsicht besser, da er Gottes Plan kannte und mich lenken konnte.
Ich empfand jetzt eine innere Ruhe … die Art von Ruhe, die auf einen Sturm folgte.
Oder kam sie davor?
Ich verließ das Zimmer im dritten Obergeschoss und ging mehrere Treppen hinunter, bis ich im Erdgeschoss ankam, wo ich klassische Musik und Stimmen hörte.
Der Essensgeruch hatte denselben Effekt, als hätte ich frühmorgens eine Bäckerei betreten. Mein Magen machte sich mit lautem Knurren bemerkbar. Ich folgte der Musik und den Stimmen, bis ich zu einem Zimmer mit einer fast zehn Meter hohen Decke und einer Fensterfront gelangte, die einen Ausblick auf Wasser und mehr Wasser bot und den Eindruck entstehen ließ, als befände man sich auf einem Boot auf dem Meer. Von der Zeltstadt sah ich nicht mehr als verschwommene Rauchsäulen, die in die Luft aufstiegen.
Ich entdeckte einen riesigen Kamin, in dem ein prasselndes Feuer brannte, und einen rustikalen Holztisch, der sich fast über die gesamte Länge des Raums erstreckte. Wie der Tisch des Letzten Abendmahls, dachte ich, einschließlich der Apostel. Zwölf an der Zahl. Ich erkannte sie aus dem Fernsehen wieder und vom Rove und der Erweckung, wenngleich mich ihr Anblick jetzt nicht mit Angst erfüllte. Die Zwillinge mit ihrem weißblonden Haar und ihren kahlen Augenlidern saßen Schulter an Schulter. Der Junge lächelte. Das
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