Die Auserwählte: Roman (German Edition)
neue Form zu pressen.
Während des Unterrichts warf ich immer wieder verstohlene Blicke auf meine Mitschüler und stellte sie mir mit schwarzen Masken im Gesicht vor. Ich betrachtete ihre Rucksäcke. Wirkten sie zu voll, weil sie womöglich rote Umhänge hineingestopft hatten? Hatten sie die Hände mit den Handflächen nach unten auf dem Tisch liegen, um ihre kreisrunden Brandmale zu verbergen?
In der Mittagspause vermied ich es, in die Cafeteria zu gehen, weil ich nicht riskieren wollte, Quentin oder Schiz zu begegnen oder, noch schlimmer, Katrina oder Jeremy. Ich wollte keine Blicke auf mir spüren und mich fragen, ob sie anderen gesichtslosen Suchenden gehörten oder irgendeinem Typen, der mir nach dem Leben trachtete. Die Jünger gaben sich wenigstens zu erkennen. Man sah sie immer kommen.
Ich suchte mir eine unauffällige Nische, um mich zu verstecken, um zu beobachten, wie Schüler in die Cafeteria strömten, und um nach Parker Ausschau zu halten. Nach zehn Minuten war er immer noch nicht aufgetaucht. Wo steckte er? Ich musste unbedingt mit ihm sprechen, musste ihm klarmachen, dass die Suchenden keine Spielchen spielten, dass sie Rituale begingen, unheimliche Masken trugen und in den Köpfen anderer Sachen anstellten, zu denen eigentlich niemand in der Lage sein sollte.
Ich machte mich auf die Suche nach Parker und begann auf der betonierten Eingangstreppe zur Schule, wo er früher immer mit seinen Freunden zu Mittag gegessen hatte.
Vom Meer wehte eine Brise, die mir die Haut auf dem Körper schrumpfen zu lassen schien. Das Unwetter war inzwischen näher – falls tatsächlich ein Unwetter im Anzug war. Ich hatte mir am Morgen noch einmal den Wetterbericht angesehen. Die Aussichten hatten sich nicht geändert. Für die gesamte nächste Woche waren Sonnenschein und Temperaturen von über zwanzig Grad vorhergesagt.
Eine Gruppe von Jüngern, wie immer in Weiß gekleidet, stand Händchen haltend und schunkelnd vor der Schule auf dem Bürgersteig und sang irgendeine blecherne, schrille Hymne. Die Jünger an den beiden Enden der Reihe hielten Schilder aus weißem Karton hoch, die an Holzpflöcken befestigt waren.
Nur die Rechtschaffenen werden überleben, stand auf einem Schild zu lesen.
Meine Haut schmerzte. Meine Gedanken drängelten sich übereinander wie Ameisen, die zum Gipfel ihres Hügels eilten.
Was war, wenn Parker zurück zu Mr Kale gegangen war, um ihn zu bitten, dem Kreis der Suchenden beitreten zu dürfen?
Ich hatte meinen Teil der Abmachung nicht erfüllt.
Ich war weggelaufen, bevor die Suchenden ihre Initiation zu Ende bringen konnten.
Parker war nach wie vor Freiwild.
Nein, ich bin diejenige, die sie haben wollen, redete ich mir ein. Ich bin diejenige, die den Funken besitzt. Ich bin angeblich das Tower-Mädchen.
Mich selbst daran zu erinnern brachte mir keine Erleichterung. Die konnte ich mir nur verschaffen, indem ich meinen Bruder fand. Ich hatte bereits an allen Orten nach ihm gesucht, die mir einfielen, bis auf einen – dem letzten Ort, an den ich mich begeben wollte, aber dem ersten, an dem ich hätte nachsehen sollen.
Raum 317.
Als ich dort ankam, stellte ich fest, dass Mr Kales Tür verschlossen war und kein Licht brannte. War er nach Hause gegangen, um die Verbrennungen zu behandeln, die ich ihm an den Händen zugefügt hatte? Mir tat kein bisschen leid, was ich getan hatte. Ich hoffte sogar, dass ich ihm sein Brandmal von der Handfläche geschmort hatte. Das hatte er verdient, weil er versucht hatte, meine Gedanken zu manipulieren.
Ich lauschte einen Moment lang an Mr Kales Tür, hörte jedoch nichts.
Dafür hörte ich aus einem der anderen Klassenzimmer auf demselben Flur Stimmen kommen. Da ich keine Idee mehr hatte, wo ich sonst noch nach Parker hätte suchen können, beschloss ich, der Sache nachzugehen. Ich schlich in die Richtung, aus der die Stimmen ertönten, und spähte durch das kleine Fenster einer Klassenzimmertür.
Zunächst sah ich nur Jünger, fünf an der Zahl, deren in Weiß gehüllte Körper miteinander zu verschmelzen schienen. Man konnte fast nicht erkennen, wo der eine aufhörte und der andere begann. Sie umringten jemanden, doch ich konnte nicht sehen, um wen es sich handelte. Da ich allerdings unmittelbar auf der anderen Seite der Tür stand, hörte ich, was sie sagten.
»… ein Kampf, den du nicht gewinnen kannst«, sagte eine Jüngerin, deren Haar streng zu einem Knoten gebunden war: Rachel. Ich erkannte die gerötete Stelle auf ihrem Nacken, an
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