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Die Auserwählte

Die Auserwählte

Titel: Die Auserwählte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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entwickeln), aber wer vermochte schon zu sagen, wie vernünftig Salvadors Überlegungen noch waren, jetzt, wo er sich der Tatsache stellen mußte, daß sein Tod relativ kurz bevorstand?
    Allan gehörte ebenfalls zu jenen, die Grund hatten, einen Groll gegen mich zu hegen; in einem anderen System wäre die Leitung der gesamten Gemeinde vielleicht ihm zugefallen (obgleich sich dabei natürlich immer die Frage nach Brigit und Rhea und Calli und Astar und selbst Onkel Mo und ihren jeweiligen Ansprüchen ergeben würde. Schließlich war keine von Salvadors beiden ursprünglichen Ehen vom Staat oder der anerkannten Kirche sanktioniert worden). Aber was würde er durch eine solche Tat gewinnen? Nichts konnte die Tatsache meines Geburtsdatums ändern – bei dem Ereignis waren ein halbes Dutzend Frauen aus der Gemeinde Zeuge gewesen – oder einen der Stützpfeiler unseres Glaubens erschüttern; was wären wir denn, wenn wir nicht an die interstitielle, abwegige Natur der Segnung glauben würden, symbolisiert durch jenen einen Tag von eintausendvierhunderteinundsechzig? Allan hatte bereits die Oberaufsicht über fast alle Bereiche des alltäglichen Lebens der Gemeinschaft inne; er besaß mehr Macht, als ich je haben wollte, und wir waren eigentlich nie uneins darüber gewesen, wie wir uns die Zukunft der Gemeinde vorstellten, wenn einst der traurige Tag kam, an dem dessen Führung in meine Hände übergehen würde. Mich anzugreifen bedeutete, die Gemeinschaft selbst und den Glauben anzugreifen, durch den Allan seinen Einfluß erhielt, und so alles aufs Spiel zu setzen.
    Calli? Astar? Zusammen oder allein könnten sie mich als Bedrohung ihrer Autorität betrachten, aber auch sie würden mehr verlieren, als sie gewinnen könnten. Erin? Jess? Jemand anders, der überzeugt war, im nächsten Jahr einen Schaltjährigen zu gebären, und mich im Vorfelde aus dem Weg schaffen oder zumindest kompromittiert sehen wollte?
    Keine diese Möglichkeiten schien einen Sinn zu ergeben.
    Was die Art und Weise betraf, so wäre es sicher sehr leicht gewesen, an die Phiole zu kommen; gewöhnlich wurde sie in einem unverschlossenen Kasten auf dem Altar im Versammlungssaal verwahrt, welcher ebenfalls immer unverschlossen war. Die Phiole in meinem Seesack zu verstecken dürfte kaum schwieriger gewesen sein; ich erinnerte mich daran, den Seesack in meinem Zimmer gepackt und dann dort stehengelassen zu haben, während ich noch einmal zu meinem Großvater und zu Allan und Erin ging. Anschließend war ich über den Hof zu Bruder Indras Werkstatt gegangen, um zu sehen, wie es mit dem Reifenschlauch-Floß voranging, und dann war ich in mein Zimmer zurückgekehrt, um den Seesack zu holen und ihn im Herrenhaus vor der Tür des Versammlungssaals abzustellen, während wir uns alle noch einmal zum Beten und Singen versammelt hatten.
    Jeder hätte klammheimlich in mein Zimmer schlüpfen oder die Phiole in meinem Seesack verstecken können, während er draußen vor dem Versammlungssaal stand; es gab kein Schloß an meiner Zimmertür – ich glaube nicht, daß es irgendwo im Haus ein funktionierendes Türschloß gibt –, und wir sind einfach nicht daran gewöhnt, Besitz zu schützen oder unser Herz an bloßen Tand zu hängen; bei uns sind Wachsamkeit und Vorsicht, die überhaupt erst den Nährboden für Argwohn bilden, nicht bekannt.
    Die letzte Gelegenheit, um die Phiole in meinem Seesack zu verstecken, wäre an jenem Morgen gewesen, als ich in das Reifenschlauch-Floß einstieg; wer hatte meinen Seesack vom Hof zum Fluß getragen? Wie viele Menschen hatten ihn in der Hand gehabt, bevor er mir übergeben wurde?
    Ich erinnerte mich daran, daß ich die Zhlonjiz-Phiole am Boden des Seesacks gefunden hatte, was darauf hindeutete, daß jemand sie in aller Ruhe dort hatte verstecken können, statt sie einfach nur hineinfallen zu lassen, aber andererseits war das Gefäß so winzig gewesen, und so wie die Tasche auf meinem Marsch vom Flußufer nach Edinburgh hinein durchgeschüttelt worden war, hatte die Phiole genügend Zeit gehabt, von oben bis auf den Boden des Seesacks hinunterzurutschen. Ich hatte den Seesack zweimal geöffnet, nachdem ich ihn in meinem Zimmer gepackt hatte, überlegte ich: einmal, um meine Wegzehrung einzustecken, und dann noch einmal für die Phiole mit Flußschlamm, also wäre mir die kleine Phiole vielleicht aufgefallen, wenn sie obenauf gelegen hätte, aber anderseits – bei der Größe – mußte es nicht sein.
    Ich war ein armseliger

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