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Die Auserwählte

Die Auserwählte

Titel: Die Auserwählte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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hinauf.
    Ich vermute, man könnte das, was ich dort tat, als Meditieren bezeichnen, aber das wäre zuviel der Ehre. Eigentlich saß ich nur da und ließ alles, was mir in den letzten Tagen passiert war, noch einmal Revue passieren, während ich mir vor meinem geistigen Auge vorstellte, der Fluß, auf den ich blickte, sei der Strom der Ereignisse, in dem ich die letzten neun Tage über getrieben war, und nun würde alles von mir wegfließen, so daß nur noch ein hauchdünner Bodensatz der Erinnerung zurückblieb wie eine Schicht Flußschlamm.
    Ich wollte mich reingewaschen fühlen, geläutert von allem, dessen man mich bezichtigt hatte, bevor ich zur Farm und zu meinem Großvater zurückkehrte.
    Ich konnte einfach nicht begreifen, was geschehen war. Ich hatte das kleine Zhlonjiz-Gefäß zum ersten Mal in Gertie Possils Haus in der Hand gehalten; ich wußte, daß ich es nicht gestohlen hatte. Ich hatte den Zettel gelesen, in den die Phiole eingewickelt gewesen war, ich konnte mich noch genau daran erinnern, wie sich das Papier zwischen meinen Fingern angefühlt hatte, ich konnte die Schrift darauf vor meinem geistigen Auge sehen - Salvadors Handschrift ähnlich genug, daß sie mich nicht argwöhnisch machte –, ja ich konnte förmlich noch den Duft riechen.
    Ich hatte die Beigabe des Balsams zu meinem Reisegepäck für eine sowohl praktische als auch liebevolle Geste gehalten; es war mir nie in den Sinn gekommen, daß es sich um eine Falle handeln könnte.
    Ich überlegte, wer es getan haben könnte und warum. Ich mußte mich der Tatsache stellen, daß sich hinter den lächelnden Gesichtern meiner Ordensgefährten böswillige Gedanken verbergen könnten. Ich war schließlich die Auserwählte; erhoben in diese Position durch einen simplen Zufall der Geburt. Sicher, ich besaß die Gabe des Heilens, um in den Augen meiner Mitgläubigen Wohlgefallen zu finden, aber das schien immer etwas Zusätzliches gewesen zu sein, etwas, das nie ganz zu unserem Glauben in seiner reinsten Form passen wollte. Ein Teil unserer Lehren besagte, daß jene, die am 29. Februar geboren wurden, anders und besser wurden, weil man sie erkennen ließ, welche bedeutende symbolische Rolle dies spielte, und nicht, weil sie bereits halb göttlich aus dem Schoß entsprangen (wie sollte man sonst erklären, daß tatsächlich jene, die in der Vergangenheit an jenem Datum geboren worden waren, nicht über Gebühr begabt oder weise waren?). In gewisser Hinsicht ist es schlicht Glück, das entscheidet, wer als Schaltjähriger geboren wird, selbst wenn sich in der Orthographie der Hinweis findet, daß Gott bei der Angelegenheit mindestens einen Finger, wenn nicht gar die ganze Hand im Spiel hat. Hätte sich da nicht einer – oder vielleicht sogar mehrere – meiner Gefährten zurückgesetzt fühlen und Argwohn empfinden können gegenüber meiner unheimlichen Gabe, erfüllt von der Überzeugung, daß er oder sie selbst sowohl reiner seien als auch diese Ehre mehr verdienten? In der Theorie sollten sich die anderen Gemeindemitglieder für mich freuen, mich unterstützen und mich wenn auch nicht aktiv verehren, so doch ehren und achten und akzeptieren, daß Gott wohl kaum zugelassen hätte, daß jemand völlig Wertloses in meine Position hineingeboren und mit meiner Gabe gesegnet würde, aber ich weiß nur zu gut, daß in dergleichen Angelegenheiten nicht immer die Theorie den Sieg bis in die tiefsten Winkel der menschlichen Seele davonträgt, und ich weiß leider auch, daß die Anhänger unseres Glaubens nicht immun gegen Unvernunft, Eifersucht oder selbst Haß sind.
    Es fiel mir schwer, mir vorzustellen, daß sogar mein Großvater selbst hinter dieser Sache stecken könnte; vielleicht ließ nur die Erinnerung an die unvermittelte, schockierende Ohrfeige diese Überlegung überhaupt denkbar erscheinen. Könnte Salvador selbst auf mich eifersüchtig sein? Es ergab keinen Sinn; sein gesamtes Leben – seit seiner nächtlichen Wiedergeburt an den sturmgepeitschten Gestaden von Harris – hatte zu der erhabenen Position geführt, die erst sein Sohn und nun ich innehatten und die ich – vielleicht – an meine Nachkommen weitergeben würde (nicht, daß zwangsläufig ich es sein mußte; ein luskentyrischer Schaltjähriger galt schließlich soviel wie der andere, aber wir hatten bis jetzt eine direkte Familienlinie aufrechterhalten, und solche scheinbaren Zufälle haben die Neigung, sich zu verselbständigen und ihre eigene Tradition – ja sogar Theologie – zu

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