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Die Auserwählte

Die Auserwählte

Titel: Die Auserwählte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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an, während ich verzweifelt überlegte, wovon in aller Welt sie sprach.
    »Das stand zumindest auf der Tasche«, erklärte sie in ihrem Ist-das-nicht-offensichtlich?- Tonfall.
    »Auf welcher Tasche, Großtante?« fragte ich mit einem Seufzer. Ich hatte den Eindruck, ich wäre längst eingeschlafen und würde hier nur Schlafreden oder wie immer man es nennen wollte.
    »Auf der Tasche.«
    »Auf der Tasche?« fragte ich.
    »Ja, auf der Tasche.«
    Ein Gefühl von déjà vu, verstärkt durch Müdigkeit, übermannte mich. »Woher stammte die Tasche?«
    »Aus Royal Scotland, nehme ich an.«
    Ich kam mir vor wie zwei Leute, die ein Boot ruderten, nur daß mein Partner nicht wirklich ruderte, sondern nur mit seinem Ruder im Wasser rührte, so daß wir immer und immer wieder im Kreis herum fuhren.
    »Wo hast du die Tasche gefunden, Großtante?« fragte ich tonlos.
    »Am – «, setzte sie an, dann beugte sie sich vor und winkte mich heran. Ich beugte mich ebenfalls vor, so daß ihr Mund an meinem Ohr war. »Ich habe es vergessen«, flüsterte sie. »Was hast du vergessen, Großtante?«
    »Wir haben sie nicht mehr. Haben sie verbrannt. Haben erkannt, was passieren würde, und hielten es für besser, sie verschwinden zu lassen. Tut mir leid.«
    »Aber wo hattest du die Tasche her, Großtante? Du sagtest – «
    »Aus der Truhe.«
    »Der Truhe.«
    »Aus unserer Aussteuertruhe. Die, zu der er keinen Schlüssel hatte. Da haben wir sie aufbewahrt. Und das Buch auch.«
    »Das Buch?« Jetzt geht es wieder von vorn los, schoß es mir durch den Sinn. Doch mitnichten:
    »Ich zeige es dir. Ich habe noch immer eine Schachtel, mußt du wissen. Die Truhe haben wir beim Brand verloren, aber ich habe das Buch und die anderen Dinge gerettet!« Sie packte aufgeregt meine Schulter.
    »Gut gemacht!« flüsterte ich.
    »Danke! Würdest du es gern sehen?«
    »Ja, bitte.«
    »Die Schachtel steht im Kleiderschrank. Sei ein gutes Kind und hol sie mir.«
    Sie lotste mich zu dem unverschlossenen Kleiderschrank, der vollgestopft mit farbenfrohen Saris und anderen, schlichteren Kleidern war. Unten drin, inmitten eines Gewühls aus alten Schuhen und scharf riechenden weißen Mottenkugeln, fand sich ein ramponierter Schuhkarton, dessen Deckel von zwei dunkelbraunen Gummibändern an seinem Platz gehalten wurde. Der Karton fühlte sich recht leicht an, als ich ihn aufhob und zu Zhobelia trug, die schon allein bei dem Gedanken an das, was sich in der Schachtel befand, ganz aus dem Häuschen schien. Sie hüpfte auf dem Bett auf und ab und winkte mich mit dem Schuhkarton heran, ganz wie ein Kind, das gar nicht schnell genug an sein Geschenk kommen konnte.
    Sie zog die Gummibänder von der alten Schuhschachtel; eins riß dabei vor schierer Altersschwäche. Zhobelia legte den Deckel neben sich aufs Bett und machte sich daran, in den Dokumenten, Zeitungsausschnitten, alten Fotografien, Notizbüchern und anderen Papieren in der Schachtel zu kramen.
    Sie reichte mir die alten Fotografien. »Hier«, sagte sie. »Die Namen stehen auf den Rückseiten.«
    Sie sah die anderen Sachen in der Schachtel durch, verweilte hier, las dort, während ich mir die alten Schnappschüsse anschaute. Da waren die beiden Schwestern – jung, verschüchtert und unsicher vor ihrem alten Ex-Bibliotheksbus. Da war Mr. McIlone, den ich schon von einigen anderen Fotografien bei uns in High Easter Offerance her kannte. Da war der Luskentyre-Hof, da die alte Seetang-Fabrik, vor und nach der Renovierung und vor und nach dem Feuer.
    Es gab nur ein Foto von Großvater, wie er im strahlenden Sonnenschein auf einem Stuhl vor dem Haus in Luskentyre saß, den Kopf zur Seite gedreht und einen Arm hochgerissen vor dem Gesicht, so daß die Kamera nur eine verschwommene Bewegung hatte einfangen können. Es war das einzige Bild von ihm, das ich je gesehen hatte, einmal abgesehen von zwei noch verwackelteren Zeitungsfotos. Er war kaum zu erkennen, doch er wirkte schlank und jung.
    »Ah. Da haben wir’s ja…« Zhobelia holte ein kleines braunes Buch – etwa von der Größe eines Taschenkalenders, aber dünner – aus dem Schuhkarton. Sie klappte das kleine Buch auf, wobei sie zum Lesen ihre Brille abnahm. Ein weißes Stück Papier fiel heraus. Zhobelia hob es auf und reichte es mir. Ich legte das Foto von Großvater auf dem Knie meiner Lederhose ab. »Aha«, sagte sie.
    Ich entfaltete den Zettel. Das Papier fühlte sich zerknittert und alt, doch auch dick und schwer an. Es war eine Banknote. Eine

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