Die Auserwählte
muß dabeisein; mehr noch als jeder andere, mußt du dabeisein. Du wirst doch rechtzeitig zurückkommen?«
»Mit Gottes Hilfe wird es nicht so lange dauern, mit Morag zu reden«, erklärte ich ihm und hielt dabei seine fleischigen Unterarme umfaßt. »Ich hoffe, ich werde zum Vollmond-Gottesdienst Mitte des Monats zurücksein. Sollte es aber doch länger dauern, dann werde ich…« Ich holte tief Luft. »Ich werde auf jeden Fall rechtzeitig zum Fest zurückkommen.«
»Es ist so wichtig«, sagte Großvater nickend. Er tätschelte meine Wange. »So wichtig. Ich werde vielleicht das nächste nicht mehr erleben.« Er blinzelte heftig.
»Doch, das wirst du«, erwiderte ich, »aber mach dir keine Sorgen. Alles wird wieder ins Lot kommen.«
»O du mein geliebtes Kind!« Er drückte mich abermals an sich.
*
Nachdem die Vorbereitungen abgeschlossen waren, hielt Großvater nach dem Abendessen einen kurzen Gottesdienst ab, um Gottes Segen für meine Mission zu erbitten.
Spät am Abend fand ich einen Augenblick Zeit, um aus dem Haus zu schlüpfen und mich über die unbeleuchtete Brücke zum Haus der Woodbeans zu stehlen, um Sophi zu sagen, daß ich fort mußte, und um mich zu verabschieden.
Kapitel
Vier
In jener Nacht – während ich in meiner Hängematte in meinem Zimmer im Bauernhaus lag – kreisten meine Gedanken um die bevorstehende Reise und die möglichen Gründe für Cousine Morags Abkehr von unserem Glauben. Ich wußte, daß es vermutlich unmöglich sein würde, Schlaf zu finden, und daß ich, sollte ich doch einnicken, dies wahrscheinlich just vor dem Wecken tun würde, so daß ich für den Rest des Tages desorientiert und wie gerädert und müde sein würde, aber das machte mir nichts aus, und außerdem ist es ja wohl bekannt, daß derartiger Schlafmangel oft einen trancegleichen Zustand hervorruft, in dem man weit offener für die Stimme des Schöpfers ist.
Morag und ich waren enge Freunde gewesen, obwohl sie vier Jahre älter als ich war – ich hatte mich immer gut mit den älteren Kindern der Gemeinde vertragen, da mein Status als Auserwählte einer Handvoll zusätzlicher Jahre zu meinem tatsächlichen Alter gleichkam. Morag und ich verstanden uns trotz des Altersunterschieds besonders gut, da wir das Interesse an der Musik teilten und uns, wie ich annehme, in unserer Art recht ähnlich waren.
Morag ist die Tochter meiner Tante Birgit, die uns vor sechs Jahren verlassen hat. Tante Birgit ist einem in Idaho in den Vereinigten Staaten ansässigen Millennialisten-Kult beigetreten, einer dieser merkwürdigen Sekten, die offenbar der Ansicht sind, die Erlösung würde aus dem Lauf einer Waffe wachsen. Tante Birgit kehrte anläßlich des letzten Fests der Liebe zurück, verbrachte aber die meiste Zeit mit dem – natürlich fruchtlosen -Versuch, uns zu ihrem neuen Glauben zu bekehren (gelegentlich sind wir doch etwas zu tolerant). Tante Birgit war nie ganz sicher, wer Morags Vater war, ein nicht unübliches Ergebnis des ungezwungenen Umgangs innerhalb der Gemeinde und einer jener unglücklichen Eigenheiten, die den sensationslüsternen Presseberichten über uns eine gewisse Glaubwürdigkeit verleihen könnten. Großvater hat Morag eindeutig immer wie eine Tochter behandelt, aber Salvador hat sich immer so verhalten, als ob alle Kinder der Gemeinde seine eigenen wären, vermutlich schlicht, um seiner Liebe für alle Erretteten Ausdruck zu verleihen, aber vielleicht auch, um lieber auf Nummer Sicher zu gehen.
Birgits Tochter war ein hochgewachsenes, perfekt proportioniertes Geschöpf mit wallendem rotbraunem Haar und Augen, die so tief und blau und groß sind wie ein Meer; ihre einzige, doch liebenswerte Unvollkommenheit war eine recht große Lücke zwischen ihren beiden oberen Schneidezähnen, obwohl sie diesen Makel – sehr zu unserer Enttäuschung – hatte richten lassen, als sie uns vor vier Jahren besuchte.
Ich glaube, in jeder anderen Umgebung hätte Morag niemals ihre Begabung für die Musik entwickelt; sie hätte viel zu früh gelernt, daß ihr Aussehen ihr Tür und Tor zu allem öffnete, was ihr Herz begehrte, und so wäre sie ein verwöhnter, nutzloser Mensch geworden, einzig dazu geeignet, den Arm eines reichen Mannes zu schmücken, der seinen Status durch ihre verhätschelte Schönheit und ihre überteuerten Kleider zur Schau stellte, und mit nichts, um die Leere ihrer Existenz zu füllen, als der Aussicht, ihm Kinder zu gebären, die sie dann gemeinsam verwöhnen konnten.
Statt
Weitere Kostenlose Bücher