Die Auserwählten
Dem war aber nicht so – Signore Salvatore stand direkt hinter ihm. Tommaso kannte den Mann nur flüchtig: Ihm gehörten ein paar von den Souvenirkiosken rund um den Markusplatz. Er war bei weitem nicht so alt wie Tommasos Mutter, aber genauso unheilbar krank.
»Ihre Mutter. Ich fühle mit Ihnen.«
Unter dem Morgenmantel schauten die nackten Beine des Alten hervor. Krampfadern und graue Haare.
»Danke.«
»Würden Sie mir eine Zigarette geben?«
Tommaso war sich im Klaren darüber, dass das keine gute Idee war, aber was machte das noch für einen Unterschied, wenn man wie Signore Salvatore auf den Tod wartete? Sein Rennen war gelaufen.
»Danke.«
Sie rauchten schweigend. Tommaso fiel wieder ein, was er vorgehabt hatte: Er wollte die Schwester seiner Mutter anrufen und sein schlechtes Gewissen mit ihr teilen. Noch immer wurde diese Nachricht auf seinem Handy angezeigt. Eine dänische Nummer. Er rief die Mailbox an.
»Ich habe hin und wieder mit Ihrer Mutter gesprochen, Signore di Barbara.«
»Das ist nett von Ihnen, danke.«
Tommaso hörte die Nachricht ab: »Hannah hier, ich rufe im Auftrag von Niels Bentzon an. Dänische Polizei. Es geht um den Fall …« Dann folgte etwas auf Französisch, das er nicht verstand.
»Auch Ihren Vater kannte ich gut.«
»Einen Moment bitte.«
Tommaso trat einen Schritt zur Seite: »… habe die Ozeane weggeschnitten, all das Wasser. Ich hoffe, Sie verstehen, am Telefon ist so etwas schwer zu erklären.«
»Er war wirklich nicht dumm, Ihr Herr Papa.«
Tommaso sah den Alten verwirrt an. Wovon redete er? Hannah rang mit ihrem begrenzten, fremdsprachigen Vokabular: »… das heißt, ohne den Wasseranteil, und mit zusammengesetzten Landmassen, so wie die Kontinente früher angeordnet waren …«
»Nach dem Krieg war seine Einstellung ja nicht gerade populär.«
Tommaso ignorierte Salvatore. Er lauschte Hannahs Worten: »Sie können sich das ja selbst einmal in einem Atlas anschauen. Man muss nur das Wasser wegschneiden. Dann sieht man es gleich. Man muss die Kontinente um den Südpol herum anordnen.«
»Aber heute … heute können wir das endlich wieder laut sagen. Er war wirklich nicht so dumm, der Benito.«
Für einen Moment lang verstand Tommaso nicht, über wen der Alte redete. Tommasos Vater hieß doch nicht Benito.
Der Alte sprach den Namen mit heimlicher Freude aus, als wäre allein diese Tatsache eine gewagte Frechheit – »Il duce«.
Auf dem Anrufbeantworter endete Hannah: »… die Koordinaten hier in Kopenhagen und in Venedig. Das sind die Tatorte der nächsten Morde. Ich schicke sie Ihnen per SMS. Au revoir.«
***
Als Tommaso am Schwesternzimmer vorbeilief, wollten ihm gleich mehrere Schwestern und Pfleger ihr Beileid aussprechen. »Danke. Vielen, vielen Dank für Ihre aufopfernde und von Herzen kommende Pflege«, antwortete er und hastete weiter. Er wusste, dass es hier irgendwo eine Bibliothek gab. Man hatte sie ihm bei seiner ersten Führung durch die Räumlichkeiten gezeigt, bevor seine Mutter vor drei Monaten eingeliefert worden war. Man hatte ihm das ganze Hospiz gezeigt, obwohl damals schon klar gewesen war, dass seine Mutter ihr Bett kaum mehr verlassen würde.
Es roch nach Chlor, und plötzlich stand Tommaso vor dem Pool, den das Hospizpersonal für die Reha-Maßnahmen nutzte. Hier war sie nicht.
»Entschuldigung. Ich suche die Bibliothek?«
Der Physiotherapeut blickte aus dem Pool auf. Er hielt mit beiden Armen einen Patienten, der starr an die Decke schaute.
»Die Bibliothek? Meinen Sie den Lesesaal?«
»Ja.«
»Erste Etage. Ganz hinten im anderen Flügel.«
Tommaso rannte los und versuchte vergeblich, Sinn in die seltsame Nachricht dieser Dänin zu bringen. Er folgte der Treppe nach unten und kam in die andere Abteilung, in der es endlich einmal nicht nach Tod roch. Nur nach Krankheit.
Dieser Teil des Hospizes sah noch immer wie das alte Kloster aus. Hier waren die Räume nicht verändert worden. Nur eine ältere Frau saß in dem großen Leseraum. Sie las aber nicht, sondern umklammerte ängstlich und mit beiden Händen ihre Handtasche, als wollte Tommaso sie ihr wegnehmen.
»Ciao.«
Er trat ans Regal. Verstaubte Bücher. Schmöker. Literatur für Patienten, die heute eher fernsahen. Irgendwo musste es hier doch einen Atlas geben.
Er sah zu der alten Frau hinüber.
»Könnten Sie mir vielleicht helfen?«
Zuerst wirkte sie überrascht. Dann strahlte sie übers ganze Gesicht. »Ja.«
»Ich muss einen Atlas finden. Wenn Sie auf
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