Die Auserwählten
Ebene, und die Türen öffneten sich.
Keller, 15.46 Uhr »Was soll ich tun, wenn ich die Tür finde?«
Niels hörte Hannahs Frage nicht mehr, er war bereits zu weit in die andere Richtung davongestürmt.
Hannah atmete tief durch. Wie sehr ihr doch die Theorie fehlte. Die Gedanken. Die Möglichkeit, das Universum auszurechnen, ohne sich weiter von ihrem Schreibtisch entfernen zu müssen als bis zum nächsten Kiosk, um Zigaretten zu kaufen.
An den meisten Türen stand nichts, und die wenigen Schilder, die sie fand, wiesen auf Lagerräume hin. Lager B2. Radiologie Abt./Reserve. Kein ›Ruheraum‹. Hannah dachte an Søren Kierkegaard. Auch er hatte sein ganzes Leben auf wenigen Quadratmetern verbracht, war dort hin und her gewandert, hatte vielleicht einmal ein paar Schritte auf der Straße gemacht, aber immer vertieft in seine Gedanken. Man braucht nicht viel Raum, um die Welt auszurechnen – dafür reicht tatsächlich eine Tonne. Lager. Depot/Anästhesie. Sie hörte Niels’ Schritte nicht mehr, als sie, den Kopf voller Gedanken über Philosophen in Tonnen, um die nächste Ecke bog. Diogenes – der Erfinder des Zynismus. Eine Bezeichnung, die sich von dem griechischen Wort für ›Hund‹ ableitete. Diogenes meinte nämlich, dass wir von den Hunden viel lernen könnten. Hunde erkennen instinktiv, wer Freund und wer Feind ist. Das tun die Menschen nicht. Wir können mit unseren schlimmsten Feinden zusammenziehen, ohne dies auch nur zu ahnen.
Warum musste sie jetzt daran denken? Manchmal machten ihr solche Assoziationen wirklich zu schaffen … nein – jetzt wusste sie, warum ihre Gedanken plötzlich zu Diogenes gegangen waren: Auch er hatte seine Tonne einmal verlassen und war durch die Straßen von Athen gelaufen, um einen ›richtigen Menschen‹ zu finden. Einen guten Menschen. Diogenes kam Hannah zu Hilfe. Wie er hatte auch sie ihre Tonne verlassen, um ein ordentliches Wesen zu finden.
Als sie wieder eine Ecke umrundete, stand sie plötzlich vor Niels.
»Was gefunden?«, fragte sie. »Es ist jetzt. Sonnenuntergang. Es ist 15.48 Uhr.«
Flüsternd zeigte er auf die Tür: »Hier ist es. ›Ruheraum.‹«
Dann nahm er seine Waffe aus dem Schulterhalfter, warf einen Blick darauf und steckte sie wieder weg. – Weiß Gott, was wir da drinnen finden, dachte er, als er ohne Vorwarnung eintrat.
***
Ruheraum, 15.48 Uhr Vollkommene Dunkelheit empfing sie; eine Finsternis, die nur durch ein schwaches Fernsehbild gebrochen wurde und aus der ihm ein erschreckter Schrei entgegenhallte.
»Maria Deleuran?«, rief er.
Saß da eine Frau auf dem Bett? Niels trat einen Schritt vor und tastete mit einer Hand nach der Wand.
»Maria?«
»Ja.«
»Sind Sie allein?«
»Ja«, antwortete sie. Niels versuchte, etwas zu erkennen, aber die Konturen des Raumes begannen sich nur langsam abzuzeichnen. Sie lag auf dem Bett. Er ging einen Schritt weiter in den Raum hinein, als er den anderen bemerkte. Ein Schatten, der viel zu schnell auf ihn zukam.
»Stehenbleiben!«
»Was ist hier denn los?«, schrie Maria.
Niels entsicherte seine Pistole.
»Verdammt, was ist hier los?«, schrie Maria noch einmal.
Niels antwortete nicht. Sein Arm schnellte nach vorne und bekam einen Kragen zu packen. Der andere riss sich los und schlug zu.
Niels wurde im Gesicht getroffen und streifte im Fallen ein Bein. Der andere war gleich darauf über ihm und versuchte, Niels am Kopf zu packen.
»Mach das Licht an!« Niels griff das Handgelenk des Mannes, drehte es herum und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Ein weiterer Schlag traf ihn auf den Hinterkopf, bevor er sich aufrichtete.
»Ruf den Wachmann«, ertönte eine Stimme.
Diese Worte kamen von dem Mann, der Niels immer noch am Arm festhielt.
»Hannah! Mach das Licht an.«
Niels konnte sich aus der Umklammerung lösen und griff nach seinen Handschellen. Eine schnelle Drehung, ein Schmerzensschrei, dann warf Niels den Mann mit all seiner Kraft zu Boden. Im gleichen Moment schaltete Hannah das Licht an. Der halbnackte Mann versuchte wegzurutschen, aber Niels hielt ihn fest und kettete eine Handschelle an ein Stahlrohr. Erst jetzt fiel Niels’ Blick auf die vor Entsetzen ganz blasse Maria, die ihren bloßen Körper mit einem Laken zu verhüllen versuchte.
»Was … was geht denn hier vor?«
Niels’ Atem ging schnell. Blut tropfte aus seiner Nase auf sein Hemd. Sein Blick zuckte von Maria und zu dem athletischen Mann Anfang vierzig, dem er die Handschelle angelegt hatte. Der Kittel des
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