Die Auserwählten
Mannes hing so über einem Stuhl, dass Niels das Namensschild lesen konnte: Max Rothstein – Oberarzt; auf dem kleinen Beistelltisch stand eine geöffnete Flasche Weißwein. Maria ließ ihren Tränen freien Lauf.
»So antworten Sie doch«, schluchzte sie. »Was geht hier vor?«
»Sie ist es nicht«, murmelte Niels. »Sie ist es nicht.«
»Was soll denn das Ganze?«
Erschöpft und nach Atem ringend, zeigte Niels seinen Dienstausweis. Hannah trat einen Schritt zurück auf den Flur.
»Wie viel Uhr ist es?«
»Niels, das Ganze ist doch verrückt.«
»Könnte mir mal jemand erklären, was das hier soll?«, meldete sich jetzt der Oberarzt zu Wort.
Niels’ Blick fiel auf den kleinen Fernseher, der im Ruheraum stand. ›Live‹ stand unter den Helikopteraufnahmen, die einen Rettungswagen auf seiner rasenden Fahrt durch die Stadt zeigten.
»Stellen Sie den Ton lauter.«
Der Arzt wollte sich beschweren, aber Niels wiederholte: »Los, lauter!«
Niemand reagierte, so dass Niels sich schließlich selbst vor den Fernseher stellte und an den Knöpfen drehte. ›Einer der Klimabeauftragten der NGOs ist während der abschließenden Verhandlungen zusammengebrochen. Unbestätigten Quellen zufolge könnte dies auf den nun bereits vierzehn Tage andauernden unmenschlichen Druck zurückzuführen sein, unter dem die Wissenschaftler stehen, um zu einer Lösung zu kommen … wie wir auf den Bildern sehen, erreicht er in diesem Augenblick das Rigshospital.‹
»O mein Gott«, sagte Hannah.
Der TV2 News -Helikopter fing mit schönen Bildern den Sonnenuntergang ein. Die allerletzten Strahlen.
»Zeit?«
»Es ist jetzt, Niels, jetzt. Oder …«
»Wo kommt dieser Krankenwagen an?«
»Ich will jetzt endlich wissen, was hier vor sich geht«, sagte der Arzt.
»WO!«
Es war Maria, die antwortete: »An der Notaufnahme. Man muss mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss.«
15.51 Uhr Niels hinkte. Hannah versuchte, ihm zu folgen, doch Niels erreichte den Fahrstuhl viel eher als sie. Er drückte fahrig auf den Knöpfen herum und musste warten. Hannah schloss zu ihm auf.
Im Fahrstuhl wechselten sie kein Wort. Sie wagte es kaum, ihn anzusehen. Dafür registrierte sie aber, wie die anderen auf ihn reagierten, als sie aus dem Fahrstuhl traten. Überrascht, schockiert. Niels humpelte mit gezogener Pistole aus dem Fahrstuhl und unternahm nicht einmal einen Versuch, das Blut zu verbergen, das ihm aus der Nase lief.
»Polizei! Wo geht’s zur Notaufnahme?«
Alle zeigten in die gleiche Richtung. Sie kamen gerade noch rechtzeitig, um den Krankenwagen vorfahren zu sehen. Mehrere Ärzte standen bereit. Die beiden Polizeimotorräder, die den Rettungswagen eskortiert hatten, fuhren weg und überließen den Platz dem Krankenhauspersonal.
Niels wollte losrennen, aber Hannah hielt ihn zurück.
»Niels!«
Er sah sie an.
»Die Zeit. Sie ist abgelaufen. Seit ein paar Minuten schon. Die Sonne ist untergegangen.«
Niels sah zu dem Mann auf der Trage. Er richtete sich auf und lächelte die Ärzte an. Offensichtlich ging es ihm schon wieder besser. Niels kannte dieses Phänomen; kam der Rettungswagen an, fühlte man sich schon wieder viel besser.
Dann bemerkte Niels, dass Sommersted neben dem Mann stand und langsam seinen Kopf drehte, bis sein Adlerblick auf Niels fiel. Das musste ja so kommen.
80.
80.
Bahnhof Santa Lucia, Venedig
Die Militärpolizei versperrte ihm den Weg, als sich die offiziellen Gäste langsam an den Reihen der Amtspersonen und Polizisten vorbeischoben.
»Commissario!« Tommaso versuchte zu rufen, aber seine Stimme war zu schwach. »Der Kardinal ist in Gefahr!«
Er entdeckte Flavio – endlich jemand, der ihn hören konnte. Aber Flavio reagierte nicht. Er blieb in der Reihe stehen, während der Justizminister dem Polizeichef die Hand schüttelte, sich sein verschwitztes Gesicht abwischte und dann sein Gefolge vorstellte. Weitere nervöse Händedrücke, Wangenküsse und einstudierte Phrasen. Der Kardinal stand in der Mitte.
Tommaso sah sich um. Keine Verdächtigen. Abgesehen von einem Mann, der sich hinter einer Sonnenbrille versteckte. Auf dem Bahnhof schien doch gar keine Sonne, warum dann diese Brille?
»Flavio!«
Endlich reagierte Flavio, trat aus der Reihe und kam auf ihn zu.
»Tommaso, was machst du hier?«, fragte er.
»Jemand ist in Lebensgefahr, jemand von denen da«, sagte Tommaso.
»Wovon redest du?«
»Du musst mir glauben …«
Flavio fiel ihm ins Wort: »Du siehst schlecht aus. Bist du krank? Du solltest nicht
Weitere Kostenlose Bücher