Die Auserwählten
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Kongens Nytorv, Kopenhagen Vater und Sohn zogen einen Weihnachtsbaum auf ihrem Schlitten über die dünne Schneedecke. Niels beobachtete sie durch die beschlagene Windschutzscheibe. Eigentlich sollte er jetzt in Afrika sein. Heiligabend an einem Swimmingpool feiern, am ersten Weihnachtstag einen Löwen sehen und die Zehen in den Indischen Ozean tauchen. Stattdessen spürte er die Kälte, die vom Boden in Hannahs Auto aufstieg.
»Soll ich fahren?«, fragte sie.
»Nein, es geht schon.«
Rot, gelb, grün. Erster Gang. Er ließ die Kupplung kommen, aber die Vorderräder drehten auf dem Schnee durch, und Niels verlor für ein paar Sekunden die Kontrolle über den Wagen, bis die Reifen mit ihrem Winterprofil endlich griffen und der Wagen sich in Bewegung setzte. Kontrolle. Jetzt hatte er das Gefühl, dass alles passieren konnte und er machtlos dagegen war. Er umklammerte das Lenkrad. Ließe er es los, würden seine Hände zu zittern beginnen, oder er würde schluchzend zusammenbrechen, wenn Hannah ihn berührte. Aber das tat sie ebenso wenig, wie Niels das Lenkrad losließ. Er fuhr über die Brücke bei den Seen, vorbei am Kongens Have. Als sie Kongens Nytorv erreichten, hatte keiner von ihnen ein Wort gesagt. Beide starrten auf den Weihnachtsmann, der mit einer Kinderschar im Schlepptau direkt am Auto vorbeilief.
Auf dem Platz standen zwei Meter große Fotografien von Hunderten von Orten, die infolge der Klimaveränderungen verschwinden würden. Die Stimme des Redners, der zu den wenigen sprach, die sich versammelt hatten, drang kaum bis zu ihnen vor: »… mehr als siebenhunderttausend Arbeiter leben von der Tee-Produktion auf Sri Lanka. Aufgrund der Trockenheit muss diese Produktion eingestellt werden.«
Der Verkehr stand still, die Menschen schleppten ihre Weihnachtseinkäufe über den Platz. Vorbei an den Fotoaufnahmen der Salomoninseln, deren Bewohner von Kokosnüssen und Fisch lebten, nur zwei Meter über der Meeresoberfläche. Weiter hinunter zu Bredgades Antiquitätenladen, wo man an den hell erleuchteten Fotografien des Tschadsees vorbeikam, der im Begriff stand, zu verdunsten und einen weiteren Zipfel Afrikas in Sand und Staub zu verwandeln. Endlich kam der Verkehr wieder in Gang. Zögernd und unsicher zwar, als erwogen alle hier versammelten Autofahrer, die Motoren auszumachen, ihre Schlüssel wegzuschmeißen und die Salomoninseln zu retten, jedenfalls versuchsweise. Aber nein, in letzter Sekunde setzte sich der Verkehr dann doch in Bewegung. War man ganz still, konnte man vielleicht hören, wie sich die letzte Kokosnuss vom Stamm löste und in ein Meer fiel, das sich vorgenommen hatte, alles zu verschlingen.
Es war Hannah, die schließlich das Schweigen brach: »Wohin sind wir eigentlich unterwegs?«
»Das weiß ich auch nicht.«
Sie sah ihn lächelnd an.
»Dieser ganze Tag heute … entschuldige, Hannah.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.«
»Es gibt da noch etwas, das ich dich gern fragen würde.«
»Ja?«
Er zögerte.
»Ich glaube nicht, dass ich heute Nacht allein sein kann.«
Es klang total verkehrt. Wie eine Einladung. Er räusperte sich.
»Also«, murmelte er. »Nicht so …«
»Nein, nein, ich verstehe schon.«
Sie sah ihn an und schien ihn wirklich zu verstehen.
»Wäre das in Ordnung für dich? Ich habe ein gutes Schlafsofa. Wir könnten ein Glas Wein trinken.«
Sie lächelte. »Weißt du, was mir gerade klargeworden ist? Es gibt drei Dinge, die Gustav nie gesagt hat: ›Das weiß ich nicht‹, ›entschuldige‹ und ›wäre das in Ordnung für dich?‹«
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Carlsberg-Silo, Kopenhagen »Meine Frau ist Architektin«, sagte Niels, als die Türen des Fahrstuhls auseinanderglitten und den Blick auf die Wohnung freigaben. Hannah kommentierte die Größe der Wohnung mit keinem Wort. Sie ließ sich auf das Sofa fallen, als wäre sie hier zu Hause. Alle, die vor ihr in der Wohnung gewesen waren, hatten sich von der 360°-Aussicht komplett in den Bann ziehen lassen. Nicht so Hannah. Wer weiß, was sie schon alles erlebt hat, dachte Niels und zog den Korken aus einer Rotweinflasche. Als Astronomin hatte sie vielleicht schon unter dem Sternenhimmel der Anden gelegen oder die Sonnenexplosionen im Gürtel des Orion verfolgt oder was es dort sonst noch zu entdecken gab. Was war da schon die Aussicht über Carlsberg? Er reichte ihr ein Glas.
»Du darfst hier gern rauchen.«
Ein Anflug von Schuld stieg in ihm auf. Als wäre er untreu. Hannah stand am
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