Die Auserwählten
Fenster.
»Mir fällt das jedes Mal auf …«
»Was?« Er ging zu ihr.
»Wenn man eine Stadt von oben sieht. Wie hier. Oder nachts auf Europa hinunterschaut. Die unzähligen Lichter. Kennst du das?«
»Nein. Ich fliege nicht so gern.«
Sie stutzte einen Moment. »Nicht?«
Sie sah ihn an. Als wäre ihr gerade etwas bewusst geworden.
»Du wolltest etwas sagen?«
»Dass die Lichter einer Stadt mit ihren Randbezirken genau so aussehen wie das Licht, das sich an einem Ort im Weltraum sammelt. Wenn wir einen Blick in ferne Galaxien werfen, Niels, dann sieht das genauso aus.«
Sie zeigte auf die Lichter am Horizont. »Fantastische Gebiete, unendliche Weiten und plötzlich, eine Ballung aus Licht. Leben. Fast wie eine Stadt.«
Niels wusste nicht, was er sagen sollte. Er schenkte nach. »Vielleicht sollten wir Tommaso anrufen. Fragen, ob er etwas gefunden hat.«
»Etwas? Ich weiß nicht, ich kann fast nicht mehr.«
»Okay, dann rufe ich an. Ich will nur wissen, ob er überhaupt ans Telefon geht. Wärst du bereit zu übersetzen, wenn er sich meldet?«
Niels rief an. Keine Antwort. Er versuchte es noch einmal. »Hello? English? Is this Tommaso di Barbaras phone?«
***
Hannah schenkte sich Rotwein nach. Niels war nebenan im Schlafzimmer. Was hatte er gerade gesagt? Hannah bekam die Worte nicht aus dem Kopf. Ich fliege nicht so gern. Verreise ungern . Er schrie fast in den Hörer: »What? Can I talk to him? I don’t understand.«
Niels ging vom Schlafzimmer ins Badezimmer. Sie begegnete seinem verwirrten Blick. »Ich glaube, sie suchen ihn. Ich kapiere nicht ganz, was da passiert ist.«
Hannah ging ihm nach. Im Bad zog er das Hemd aus und warf es auf den Boden. Sie sah ihn an. Auf dem Hemd war Blut. Er drehte ihr den Rücken zu. Hannah wusste, was sie finden würde, trotzdem kam die Erkenntnis für sie wie ein Schock.
»What? No? Tommaso?«
Niels versuchte, seinem Gesprächspartner noch mehr zu entlocken, aber der hatte längst aufgelegt. Er stützte sich mit beiden Händen auf das Waschbecken. Hannah wandte ihren Blick nicht von ihm ab. Endlich drehte er sich um.
»Er … er …« Niels stotterte, dann versagte ihm die Stimme.
»Er ist tot«, sagte sie.
»Woher weißt du das?«
»Die Frage ist eher, warum ich das nicht eher erkannt habe.«
»Wie das denn?«
»Niels, er war Nummer fünfunddreißig.«
Sie hatte ihn verloren, das konnte sie spüren. Sie ging ins Bad und nahm vorsichtig Niels’ Hand.
»Was willst du?«
»Versuch mal, dich umzudrehen.«
Sie drehte ihn vorsichtig vor dem Spiegel. Nahm einen kleinen Taschenspiegel, der auf der Ablage des Waschbeckens lag, und reichte ihn ihm.
»Guck selbst.«
Zuerst konnte er nichts erkennen. Dann sah auch er es. Ein Mal begann sich auf seinem Rücken abzuzeichnen. Noch ganz undeutlich zwar, aber die Form war eindeutig und ließ keine Zweifel zu. Der Spiegel rutschte ihm aus der Hand und zersplitterte auf den Fliesen. Sieben Jahre Unglück. Dann stürzte er aus dem Bad.
»Niels?«
Aber er war bereits weg und hatte die Schlafzimmertür zugeworfen. Sie rief ihm nach. »Ihr habt euch selbst gefunden. Das ist einleuchtend. Ihr wart ja die einzigen beiden, die sich gegenseitig zugehört haben.«
Sie hörte ihn im Schlafzimmer hantieren. »Nur ihr hattet offene Ohren«, wiederholte sie leise.
Niels riss die Tür auf. Neues Hemd. Koffer in der Hand. Diesen Koffer hatte er schon vor langer Zeit gepackt, aber irgendwie nicht weggewollt. Jetzt wollte er weg.
85.
85.
Ospedale dell’Angelo, Venedig
Commissario Morante hielt Tommasos Handy in der Hand.
Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er sich verantwortlich fühlte. Und weil er seiner Verantwortung nicht gerecht geworden war. Dieses Gefühl schnürte ihm die Kehle zu.
Verantwortung ließ sich auf einer Waage abwägen, dachte der Polizeichef, bevor Flavio ihn unterbrach.
»Ich hätte auf ihn hören sollen.«
Der Polizeichef musterte Flavio, der auf einem hellroten Plastikstuhl saß. Sie warteten darauf, dass der Arzt zurückkam und sie ihm wenigstens ein paar Fragen stellen konnten. Ein schwedischer Tourist hatte Tommaso auf der Toilette entdeckt, da war er bereits tot.
»Er hat gesagt, wir seien in Gefahr. Dass jemand in Lebensgefahr sei«, erklärte Flavio.
»Wann?«
»Auf dem Bahnhof. Ich dachte, er wäre krank. Sie hatten mir doch von seiner Suspendierung erzählt.«
»Habe ich das? Dann ist es also mein Fehler? Wollen Sie das damit sagen?«
Flavio sah den Polizeichef überrascht an. Er
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