Die Auserwählten
schloss auf. Niels setzte sich hinter das Steuer. Hannah auf den Beifahrersitz. Er zog die Tür zu und warf den Koffer neben dem Pappkarton mit den Fallunterlagen auf die Rückbank.
»Okay, Niels Bentzon«, sagte sie. »Wohin fahren wir?«
Hannah sah ihn erwartungsvoll an.
»Ich bin kein Arzt«, zischte er schließlich durch seine zusammengebissenen Zähne. »Aber es gibt doch diese psychosomatischen Reaktionen. Gestörte Sinneseindrücke. Ungewöhnliche Bewusstseinszustände. Denk doch nur mal an Stigmatisierung.«
Niels’ Hirn arbeitete auf Hochtouren. Die Erinnerung an eine Fernsehsendung kam ihm zu Hilfe. »Franz von Assisi.«
»Was hat der denn damit zu tun?«
»Die letzten Jahre seines Lebens lief er mit konstant blutenden Händen und Füßen herum. Der Grund dafür kam aus ihm selbst. Oder wie immer man das nennt.«
Niels vergrub das Gesicht in den Händen, während er sich an die Fernsehsendung zu erinnern versuchte. »Da war auch noch ein anderer. So ein kleiner, dicker Mönch. Ein Italiener? Es existiert sogar eine Unterwasserskulptur von ihm. Pater Pio! Hast du von dem schon mal was gehört? Er lebte in unserer Zeit, ist irgendwann in den Sechzigern gestorben. Über fünfzig Jahre hinweg haben seine Hände geblutet. Der Körper kann die seltsamsten Phänomene hervorbringen. Das muss auch hier der Fall sein. Sonst ergibt das alles keinen Sinn.«
»Warum suchst du nach einem Sinn?«
Niels schwieg, aber sie blieb hartnäckig. »Woher willst du denn wissen, dass es überhaupt einen Sinn gibt? Ergibt es Sinn, dass sich die Planeten auf einer ellipsoiden Bahn um die Sonne bewegen? Oder dass …«
»Ich bin nicht religiös, Hannah. Für mich muss es für das hier eine natürliche Erklärung geben.«
»Aber wir haben die natürliche Erklärung doch gefunden. Wir verstehen sie nur nicht. So ist das bei allen Entdeckungen.«
Er schüttelte den Kopf.
»Stell dir doch mal vor, das Phänomen verhält sich wie ein Naturgesetz.«
»Ein Naturgesetz?«
»Die Definition geht in Richtung eines begründeten Zusammenhangs zwischen physikalischen Größen. Kurz gesagt, ist ein Naturgesetz etwas, das nicht zu ändern ist. Da kannst du so viel rufen und schreien, wie du willst. Du änderst nichts daran. Sieh mich an.«
Er gehorchte, sagte aber nichts.
»Warum ist es so undenkbar, dass das Phänomen einem bestimmten Muster folgt?«
»Und wie sollte so etwas möglich sein?«
»Das ist wie mit der Mathematik. Unmittelbar herrscht Chaos. Man kann weder Kopf noch Schwanz finden. Doch plötzlich – wenn man etwas mehr Distanz zulässt und den Code knackt – steht man vor einem System, das aus dem Chaos erwächst. Plötzlich lösen sich all die vermeintlichen Zufälle vor deinen Augen auf. Die Dinge … die Zahlen sammeln sich und können zu einer Formel zusammengestellt werden. Das kennt jeder Mathematiker.«
»Hannah.«
Sie unterbrach ihn: »Das Ganze sieht nur wie zufällig aus, Niels. Die Art, wie du an den Fall gekommen bist. Tommaso. Die Begegnung mit mir. All das passt zusammen. Das Ganze unterliegt einem System. Einem Naturgesetz.«
»Das klingt doch ziemlich konstruiert.« Niels schüttelte den Kopf.
»Keiner von euch kann reisen«, fuhr sie fort. »Ihr seid wie Masten, die irgendwo stehen und darauf warten, aktiviert zu werden. Und plötzlich tut ihr etwas. Ihr handelt . Eine Handlung, die mit etwas Größerem in Verbindung steht.«
»Etwas Größerem?«
»Wie der Soldat, der den Gefangenen freigelassen hat und auf diese Weise seinen Glauben an die …«
»Das ist doch nur ein Beispiel«, unterbrach Niels sie. »Was ist mit dem Russen?«
»Der hat die Mutter und das Kind in diesem Theater gerettet. Wer weiß, was die sonst noch bewirken? Oder der Junge, der durch das Medikament geheilt werden konnte, das noch nicht zugelassen war.«
Niels schwieg, und Hannah fuhr fort:
»Ihr seid wie kleine Inseln, Niels. Gebunden an einen ganz bestimmten Ort, an dem ihr für Schutz sorgt.«
»Schutz!« Niels sah sie voller Hohn an. »Ich kann mich doch nicht einmal selbst schützen.«
»Das hat doch damit nichts zu tun. Du hast es selbst erzählt: Du bist es, der angerufen wird, wenn jemand genug vom Leben hat und Selbstmord begehen will. Wie die anderen fünfunddreißig Ärzte, Menschenrechtler: Denk nur an den Russen im Theater, der sich schützend vor Mutter und Kind gestellt hat und bereit war, für sie zu sterben. Genau das Gleiche tust du. Und du hast diese Bedrohung von Anfang an ernst genommen. Als
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