Die Auserwählten
ist los? Wo sind wir?«
»Irgendwo.«
»Irgendwo?«
»Ein guter Name für diese Stadt, findest du nicht auch?«
»Niels, was sollen wir hier?«
Er sah sie an.
»Deine Mathematik besiegen.«
2.
2.
Irgendwo auf Seeland Kathrine pflegte zu sagen, dass es zwei Arten von Menschen gibt. Diejenigen, die ruhig werden, wenn sie zum Arzt kommen, und diejenigen, bei denen dann die Angst erst ausbricht. Niels gehörte zur zweiten Kategorie. Egal ob Praxen, ambulante Einrichtungen oder Kliniken, er tat alles, was in seiner Macht stand, diese zu umgehen. Jeden Arztbesuch schob er endlos vor sich her, was vor sechs Jahren beinahe zur Katastrophe geführt hätte. Eine harmlose Lungenentzündung, die mit vergleichsweise mildem Penicillin im Lauf weniger Tage hätte kuriert werden können, hatte ihm fast das Leben gekostet. Weil er nichts tat, griff die Infektion auch auf das Lungenfell und das Lungengewebe über, so dass Niels, als er sich endlich einliefern ließ, so geschwächt war, dass die Ärzte bereits von einem aggressiven Lungenkrebs ausgingen. Kathrine war stinkwütend auf ihn gewesen. Warum war er nicht eher zum Arzt gegangen? »Ich gehöre zur zweiten Kategorie«, war seine einzige Entschuldigung gewesen.
***
Der Alarm kam etwas verzögert, nachdem Niels mit dem Ellenbogen die Scheibe eingeschlagen hatte. Dann heulte es los. Schrill und unangenehm laut. Niels hatte sich an der Hand verletzt, sie blutete, und er hielt einen Augenblick inne. Dann begann er, Schubladen und Schränke zu durchsuchen. Trotz der Dunkelheit versuchte er, die Etiketten zu entziffern. Prednisolon, Buventol, Aspirin, Terbasmin. Wie lautete der offizielle Name für Morphin? Er überflog die Beipackzettel: Sedativa, Schlafmittel. Abführmittel. Antiallergikum . Das meiste landete auf dem Boden, nur die Medikamente, die einen betäubenden Effekt versprachen, verstaute er in seiner Tasche. Wie viel Zeit war inzwischen vergangen? Es sollte mindestens zehn Minuten dauern, bis die Polizei hier war. Wenn nicht mehr. Einbrüche dieser Art hatten keine sonderlich hohe Priorität. Niels konnte sich denken, was sie jetzt auf der Wache dachten: »Scheiß Junkies!« Vielleicht blieben sie sogar sitzen und tranken noch eine halbe Tasse Kaffee. Denn was nützte es schon, außerdem hatte kein Polizist Lust, sich bei Dunkelheit und Schneesturm mit einem aidskranken, verzweifelten Junkie zu befassen. Schließlich gab es immer wieder eine neue, arme Seele, die bereit war, Pillen jedweder Art zu schlucken, um damit die Entzugserscheinungen zu lindern. Binyrebark, Baclofen, Bromhexin, das eine auf den Boden, das andere in die Tasche. Schließlich fand er doch noch etwas Brauchbares: Contalgin, Malfin.
»Was zum Teufel machen Sie da?«
Plötzlich ging das Licht an. Grell und schonungslos wurde Niels geblendet.
»Ich habe Sie gefragt, was Sie da tun!«
Der Mann war jünger als Niels. Aber groß und breitschultrig und ganz offensichtlich ziemlich wütend.
Niels wusste nicht, was er sagen sollte, ihm kam kein einziges Wort in den Sinn. Dieses Schweigen war häufig bei Festnahmen. Man führte es darauf zurück, dass der Festgenommene so etwas wie einen Schock erlitt. Aber so war es nicht immer. Manchmal gab es ganz einfach nichts zu sagen.
»Rühren Sie sich nicht von der Stelle! Ich habe die Polizei gerufen.«
Der Mann blockierte die Tür. Niels sah sich um. Einen anderen Fluchtweg gab es nicht. Er musste an dem Mann vorbei. Jetzt. Niels ging einen Schritt auf ihn zu.
»Sie sollen stehen bleiben!«
Niels stand dicht vor ihm. Plötzlich streckte der Mann seine Hände nach Niels aus. Niels reagierte instinktiv und schob die Arme des Mannes weg, was diesen erst richtig in Rage brachte. Er schlug nach Niels, traf ihn aber nicht richtig. Niels wollte einfach nur weg und versuchte, sich an dem Mann vorbeizudrücken, wurde aber gepackt und festgehalten, so dass die beiden Männer einige unschöne Sekunden wie zwei Amateurringer ineinander verkeilt dastanden. Der Mann war stärker als Niels, aber ihm fehlte der Mut der Verzweiflung, weshalb es Niels schließlich gelang, ihn abzuschütteln. Der Mann stolperte ein paar Schritte weg, zog Niels aber mit sich, bis er mit dem Rücken gegen ein freistehendes Regal stieß. Das Regal stürzte krachend zu Boden, und der Lärm übertönte für einen kurzen Augenblick den Alarm. Dann war das Heulen wieder da.
Niels war als Erster auf den Beinen. Er stieß den Mann von sich und registrierte im gleichen Moment einen
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