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Die Auserwählten

Die Auserwählten

Titel: Die Auserwählten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A. J. Kazinski
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Glassplitter, der dicht am Auge aus der Wange des Mannes ragte. In seinem Gesicht und in seinen Haaren war Blut.
    Dann war Niels durch die Tür verschwunden.
    Er rannte zum Auto und hätte auf dem glatten Boden fast den Halt verloren. Hannah hatte bereits die Tür geöffnet. In der Ferne waren Polizeisirenen zu hören.
    »Niels, verdammt!«
    Sie ließ den Motor an.
    »Was ist hier los, Niels?«
    Dann fuhr sie aus dem Dorf. Irgendwo .
    ***
    Sie hielten am Straßenrand. Das Schneegestöber hatte nachgelassen, aber vermutlich nutzte der Himmel diese Pause nur, um seine Truppen wieder zu sammeln und in Kürze mit neuer Kraft einen weiteren Angriff zu starten. Die ganze Welt stand still. Kein Laut war zu hören.
    Niels starrte durch die Windschutzscheibe ins Dunkel. Die Uhr im Armaturenbrett zeigte kurz nach drei. Die Nacht war halb vorüber.
    »Ich habe so etwas noch nie gemacht«, sagte er.
    »Wenn du so weitermachst, bleibt dir die Sache am kommenden Freitag vielleicht wirklich erspart.«
    »Wie meinst du das?« Niels drehte den Kopf und sah sie an.
    »Vielleicht solltest du ganz einfach etwas Böses tun, damit du kein guter Mensch mehr bist.«
    Niels antwortete nicht. Er leerte seine Taschen und las die Beipackzettel der gestohlenen Medikamente und Utensilien. »Ich glaube, ich habe alles, was ich brauche.«
    »Und wofür soll das gut sein?«
    »Spritzen, Alkohol und genug Morphin, um einen Elefanten zu betäuben.«
    Aber seine Worte stießen bei Hannah auf taube Ohren. Trotzdem fuhr Niels fort: »Wir haben eine Woche. Etwas weniger als eine Woche. Also …«
    Er überlegte.
    »Was, Niels?«
    »Dann nehme ich das Morphin, verstecke mich in einem Bad und fahre mit einem Schiff davon.«
    »Du willst mit einem Schiff weg?«
    »Ja.«
    »Und wohin?«
    Er zuckte mit den Schultern.
    »Wohin würdest du denn gern, Niels?«
    »Nach Argentinien, vielleicht.«
    »Argentinien?« War das ein Lächeln auf ihrem Gesicht? »Eine ganz schöne Strecke.«
    »Buenos Aires.«
    Hannah schwieg.
    »Ich habe da drüben eine Freundin. Sie hat mir von den grünen Seen in Patagonien erzählt. Grün wie Smaragde.«
    »Und wer soll das sein?«
    Er zögerte. »Ich weiß nicht. Ich … Wir kennen uns nicht persönlich.« Er drehte den Kopf und sah Hannah an. Ihr hübsches Gesicht drückte so viele unterschiedliche Gefühle aus, Glück, Angst, Sorgen, und in ihrem Augenwinkel glänzte etwas. Eine Träne? »Nein, ich will mit dir zusammen sein, Hannah.«
    »Du kannst nicht reisen.«
    »Vielleicht doch. Wenn ich tief genug schlafe.«
    »Du verstehst das nicht, Niels. Du verstehst das wirklich nicht.« Es war tatsächlich eine Träne. Er erkannte es deutlich, als sie sie hastig wegwischte. »Naturgesetzen ist es egal, ob du schläfst.«

3.
    3.
    Großer Belt Niels erinnerte sich noch an die Einweihung der Verkehrsverbindung über den Großen Belt. Das war 1998 gewesen. Kathrine hatte neidisch vor dem Fernseher gehangen. Total fasziniert von der achtzehn Kilometer langen, monströsen Hängebrücke, die sich so weit erstreckte, wie das Auge reichte. Sie kannte die Zahlen: Siebzig Meter bis zur Meeresoberfläche. Mehr als anderthalb Kilometer zwischen den beiden Pfosten, die zweihundertfünfzig Meter hoch in den Himmel ragten. Neunzehn Brückenpfeiler à sechstausend Tonnen. Niels verstand ihre Begeisterung nicht. Er hielt die Brücke für Geldverschwendung. Doch der Wegfall der Fähren wog für ihn noch schwerer. Der Verlust der Möglichkeit, anderen Menschen zu begegnen, mit Fernfahrern ins Gespräch zu kommen, mit Politikern, ja den unterschiedlichsten Menschen aus allen Ecken des Landes. Kathrine wollte gern einmal eine Brücke entwerfen. Sie konnte ganze Abende im Internet verbringen und von einer Brücke zur anderen surfen: Golden Gate, Ponte Vecchio, Karlsbrücke, Akashi Kaikyo-oder die South Congress Bridge in Austin, von der sich jeden Abend anderthalb Millionen Fledermäuse aufmachten, um sich ihre Dämmerungsmahlzeit zu fangen. Sie war der Meinung, dass Niels sich mit seiner Ansicht über die Storebeltbrücke irrte. Sie glaubte, dass dieses Bauwerk gerade dazu führen würde, Menschen miteinander zu verbinden, sie in Kontakt zu bringen.
    Niels sah nach draußen auf den Verkehr, der vor den Mautautomaten am Fuß der Brücke ins Stocken kam. Niemand redete miteinander. Die Menschen rasten schneller denn je aneinander vorbei.
    Über dem Meer ging langsam die Sonne auf.
    Samstag, 19. Dezember Die frühen Sonnenstrahlen färbten das Wasser orange.

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