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Die Auserwählten

Die Auserwählten

Titel: Die Auserwählten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A. J. Kazinski
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Noch immer standen Niels und Hannah vor dem Mautschalter. Die Autoschlange hatte sich seit zehn Minuten nicht bewegt. Hannah schlief. Niels sah sie an. Ihr Gesicht war so friedlich, so unbekümmert. Unter einem Augenlid war ein leichtes Zittern zu erkennen. Sie träumte.
    Er rückte schließlich bis zum Schalter vor.
    »Guten Morgen.« Niels reichte dem uniformierten Mann seine Kreditkarte.
    »Passen Sie auf. Es könnte glatt sein.«
    »Danke.«
    Niels fuhr in Richtung Fünen.
    »Niels?« Hannah war noch weit weg. Ihre Stimme klang belegt und rau.
    »Schlaf nur weiter.«
    Er schaltete das Radio ein. Weihnachtsmusik. Dann Nachrichten: Es ging vorwiegend um die Klimakonferenz. Die Regierung wertete die Ergebnisse als einen großen Erfolg. Die Opposition als ein gewaltiges Fiasko. Der Schwarze Peter wurde den Chinesen zugeschoben. Darin waren sich alle einig. Ein Politiker sagte: »… es war fast so, als glaubten die Chinesen auf einem anderen Planeten als alle anderen zu leben. Sonst könnte ihnen das Klima doch nicht so egal sein.« Dann ein Themenwechsel: Ein Politiker forderte eine Steuerreform, ein anderer beklagte sich über den Schwindel mit Lebensmitteln. Aber auch die Kämpfe an der Grenze zu Gaza und eine kleinere Ölpest vor der Küste Kanadas kamen zur Sprache. Niels wollte einen anderen Sender finden. Schnell. Als er die Fahndungsmeldung hörte, dauerte es eine Weile, bis ihm klarwurde, wer da gesucht wurde. ›Dänisch aussehender Mann, zirka 1,85 Meter groß, Jeans, dunkler Mantel, er gilt als gefährlich.‹ Besonders das letzte Wort machte Eindruck auf ihn. ›Gefährlich‹. Niels war im Lauf seines Lebens schon mit vielen Adjektiven in Verbindung gebracht worden – naiv, konfliktscheu, diplomatisch, vage, weltfremd, klug, dumm, manisch-depressiv –, aber als gefährlich war er bisher noch nie bezeichnet worden.
    »Gefährlich.« Das Wort verfolgte ihn noch ein paar Kilometer weiter auf der Autobahn. Er drosselte das Tempo und ertappte sich dabei, paranoide Blicke in den Rückspiegel zu werfen. Hatte jemand das Auto gesehen, als er aus der Praxis gelaufen war? Niels versuchte, sich die ganze Situation ins Gedächtnis zurückzurufen. Auf den ersten Blick war er überzeugt davon, dass es außer dem Mann in der Praxis keine weiteren Zeugen gegeben hatte. Und dieser Mann konnte das Auto nicht gesehen haben. Doch dann kamen ihm Zweifel. Konnte er aufgestanden und ans Fenster gelaufen sein? Hatte er sich das Kennzeichen notieren können? Niels war sich nicht sicher. Er wusste nur, dass er sich physisch unwohl fühlte, wenn er an die Situation dachte. Und dann – gerade als er von der Autobahn abfuhr und auf eine Landstraße fuhr – war er sich fast sicher: Der Mann hatte am Fenster gestanden. Niels hatte die Silhouette gesehen. Wenn er sich die Nummer notiert hatte, ging es schnell. Ein Auto, dessen Nummer die Polizei kannte, wurde in der Regel im Handumdrehen gefunden. In wenigen Stunden. Insbesondere, nachdem Niels als ›gefährlich‹ bezeichnet worden war. Ein Stechen ging durch sein Bein. Niels hätte sich gern ein bisschen die Beine vertreten, entschloss sich aber, nichts auf die ganze Sache zu geben und irgendwo anzuhalten. Und noch einen anderen Entschluss fasste er: Hannah brauchte nicht zu wissen, dass nach ihnen gefahndet wurde.
    Sie kamen schließlich irgendwo ans Wasser. Ein kleiner Hafen. Kerteminde Havn, vielleicht.
    »Niels?« Hannah wachte auf, als er anhielt. »Wo sind wir?«
    »Guten Morgen. Wir brauchen eine Tasse Kaffee und müssen ein bisschen nachdenken.«
    Hannah reckte sich. Sie schien glücklich zu sein. Ob es der Gedanke an den Kaffee war, der sie freute, oder die Aussicht, nachzudenken, wusste er nicht.
    Ein kleines Hafenkontor mit einem Kiosk. Hannah wartete draußen, während Niels zwei Kaffee holte.
    Die Verkäuferin sah ihn misstrauisch an. Vielleicht bildete er sich das aber auch nur ein. Es war üblich, dass Tankstellen Fahndungsmeldungen erhielten, aber so ein Kiosk? Oder hatte sie bereits ein Phantombild unter ihrem Tresen liegen oder auf dem Bildschirm des kleinen Laptops, der drüben am Fenster stand? Niels begegnete ihrem Blick. Musterte sie ihn, schätzte sie seine Größe und sein Gewicht? Niels versuchte, sich zu entspannen. Gab sich Mühe, seine Schultern und seine Gesichtsmuskeln zu lockern, aber das Resultat war vorhersehbar: Er musste wie ein nervenschwacher Roboter wirken, und als er den Kiosk verließ, sah er schon vor sich, wie die junge Frau zum Telefon

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